# taz.de -- Gruselfest Halloween: Im Zeichen des großen Kürbisses | |
> Halloween ist ein Glücksfall. Denn das Fest ermöglicht tatsächliche | |
> Begegnungen über alle kulturellen Grenzen hinweg. | |
Bild: Ganz selbstverständlich stapfen an Halloween Kinder mit urdeutschem, tü… | |
Auf der einschlägigen Homepage www.schulferien.org muss den Kids | |
ausdrücklich erklärt werden, dass Halloween kein gesetzlicher Feiertag ist, | |
immer noch nicht – im Unterschied zum Reformationstag etwa, der in den | |
östlichen Bundesländern am selben Tag begangen wird, und zu Allerheiligen, | |
das in den südlichen Bundesländern einen Tag später gefeiert wird. Die | |
christlichen Kirchen sehen sich inzwischen zu regelrechten | |
Anti-Halloween-Kampagnen herausgefordert. | |
Sie werden ihnen nichts nützen. Innerhalb relativ kurzer Zeit hat sich das | |
Gruselfest zu einem wahren Mainstreamereignis ausgewachsen. Allerorten | |
verkleiden sich Kinder und Jugendliche. Quer durch die Republik legen | |
Erwachsene im Flur Süßigkeiten bereit, die sie dann am Abend des 31. | |
Oktober an der Wohnungstür verteilen können. Und überhaupt, wer hätte noch | |
vor einigen Jahren gedacht, dass ausgerechnet Kürbisse einmal so populär | |
werden könnten? | |
Mit solchen Alltagsbeobachtungen könnte man es nun bewenden lassen, werden | |
sich viele denken und ansonsten bei Halloween entweder begeistert mitmachen | |
oder schon im Vorfeld entnervt abwinken. Aber da ist mehr drin. Halloween | |
erzählt einiges über unsere Gesellschaft. Und es ist noch mehr drin. | |
Manches spricht sogar dafür, dass man dieses Fest, so scheinbar künstlich | |
es ist, in die kulturellen Selbstverständnisdebatten einbeziehen muss, die | |
nun angesichts der Flüchtlingskrise anstehen – wenn die direkte | |
Hilfeleistung erst einmal bewerkstelligt ist (was hoffentlich bald der Fall | |
sein wird) und neben der politischen Diskussion natürlich. | |
Der Knackpunkt ist: Gerade Halloween könnte sich als genau das richtige | |
Fest für eine Gesellschaft erweisen, die sich nicht mehr auf homogene | |
Wurzeln oder auf gemeinschaftlich geteilte kulturelle Zeichen zurückführen | |
lässt. Auch wenn man sich teilweise noch daran gewöhnen muss: Unsere | |
Gesellschaft beginnt sich inzwischen endgültig als divers, bunt und | |
multikulturell zu begreifen – nicht mehr nur von ihrem modern-liberalen | |
Selbstverständnis her, sondern auch ganz praktisch (diese praktische | |
Umsetzung unserer Grundsätze einzufordern, macht die Schönheit vieler | |
Kanzlerinnenworte in diesen Tagen aus). Und gerade Halloween ist ein | |
Ereignis, das auf diese Dynamik antwortet. | |
## Wahrer Integrationsmotor | |
Wer Kinder in den einschlägigen multikulturellen Innenstadtbezirken unserer | |
Republik hat, konnte schon in den vergangenen Jahren erfahren, dass dieser | |
31. Oktober ein wahrer Integrationsmotor ist. Wie mit nichtchristlichen | |
Feiertagen umzugehen sei, das wurde in vielen Kitas und Grundschulen | |
diskutiert. In der Kita, in die meine Kinder gingen, wurde dann neben | |
Ostern und Weihnachten auch das Zuckerfest eingeführt. Aber das hatte etwas | |
Künstliches. | |
Die jeweiligen Traditionen erwiesen sich schlicht als zu massiv und zu | |
unflexibel. So wenig wie einem Kind mit muslimischem Hintergrund zuzumuten | |
ist, sich in die spezifische Innigkeit einer deutschen Weihnacht | |
einzufühlen, so wenig wird ein Kind mit rein deutschen Vorfahren das | |
Zuckerfest jemals als wirklich Eigenes begreifen können. Zumal die vielen | |
Süßigkeiten auch wenig Sinn ergeben, wenn man vorher den Fastenmonat | |
Ramadan nicht mitgemacht hat. Außerdem müssten nach dieser Logik auch die | |
Feiertage aller anderen Religionen berücksichtigt werden – was dann | |
spätestens wieder Agnostiker (wie mich) irritiert. Das hat also nicht so | |
gut funktioniert. | |
Was aber funktioniert, das ist Halloween. Man schaue einmal durch die | |
äußerlichen Zeichen aus Kürbissen, Masken und Hexenhüten hindurch auf das, | |
was an diesem Abend tatsächlich passiert. Ganz selbstverständlich und mit | |
großer Begeisterung stapfen Kinder mit urdeutschem, türkischem, arabischem | |
und sonst einem Hintergrund gemeinsam los, um Süßes oder Saures | |
einzufordern. Mit leuchtenden Augen erzählen sie sich gegenseitig am | |
nächsten Tag von ihren Erlebnissen. | |
Diesen Effekt erzielt kein anderes Fest. Während man bei religiös und | |
traditionell begründeten Feiertagen als Fremder immer fremd bleiben wird – | |
vielleicht ein geduldeter Fremder, vielleicht auch ein besonders hofierter | |
Fremder mit allen Vorzügen des Gastrechts, aber immer ein Fremder –, | |
gewährleistet Halloween tatsächliche Begegnungen über alle kulturellen | |
Grenzen hinweg. | |
## Von Gleich zu Gleich begegnen | |
Womöglich klingt das jetzt eine Spur zu idealistisch. Aber eine tatsächlich | |
multikulturelle Gesellschaft braucht Anlässe, an denen sich Menschen von | |
Gleich zu Gleich begegnen können. Und die deutsche Gesellschaft ist gerade | |
dabei, Räume dafür zu schaffen. Die deutsche Fußballnationalmannschaft | |
bietet solche Anlässe; an Türkenkids, die nach Siegen Deutschlandfahnen | |
schwenken, hat man sich längst gewöhnt. Auch die moderne Kunst und die | |
Popkultur, die Nationengrenzen hinter sich gelassen haben, bieten solche | |
Anlässe. | |
Auf dieser Linie liegt auch Halloween. Angesichts der Herausforderungen | |
durch die Flüchtlingkrise müsste man diesen Tag geradezu als Glücksfall | |
entdecken. Flüchtling, Migrant, Ureinwohner – im Zeichen des großen | |
Kürbisses ist das alles gleich. Es zählt nur das jeweils individuelle | |
Geschick, aus sich an diesem Abend etwas Besonderes zu machen. | |
Warum gerade Halloween? Das ist eine interessante Frage, bei der es auch | |
für links-alternative Menschen ein Stück weit ans Eingemachte geht. Sich | |
gegen Konservative abzugrenzen, die angesichts der Flüchtlinge ihr | |
imaginiertes Abendland bedroht sehen, ist leicht. Sich ein Stück weit von | |
den eigenen Überzeugungen entfernen zu müssen, schon schwieriger. | |
So greift Konsumkritik bei diesem Ereignis zu kurz. Halloween funktioniert | |
nicht obwohl, sondern gerade weil es ein Konsumfest ist. Der | |
Konsumcharakter senkt die Zugangsbeschränkungen. Man braucht sich nur eine | |
Maske zu kaufen und den Spruch „Süßes oder Saures“ zu lernen. Und fertig. | |
## Verwandlung und Kostümierung | |
Selbstverständlich kostet die Maske Geld. Aber um an anderen Festen | |
wirklich teilzuhaben, gibt es ganz anders gelagerte (und viel | |
kostspieligere) Zugangsschranken: Konfirmationsunterricht, Bar Mitzwa und | |
Koranschulen im institutionellen religiösen Hintergrund. Daneben | |
vielfältige bildungsbürgerliche Erlebnisse und historisch-kulturelle | |
Kenntnisse; ob nun Bach, Luther, Paul Gerhardt oder – Namen, die man | |
kürzlich in der Friedenspreisrede Navid Kermanis hören konnte – Rumi, Ibn | |
Battuta und Ibn Arabi. Darübergelegt sind mit der Muttermilch aufgesogene | |
Familienrituale, die auch innerhalb des eigenen kulturellen Hintergrunds | |
schwere Hindernisse darstellen. Versuchen Sie mal, mit einer fremden | |
Familie Weihnachten zu feiern (als Schwiegersohn oder Schwiegertochter | |
etwa). Auch mit noch so deutschem Hintergrund ist das nicht leicht. | |
Neben den gesenkten Zugangsschranken bietet Halloween aber auch noch etwas: | |
die Möglichkeit der Kostümierung und Verwandlung für jeden, der teilnimmt, | |
und damit wiederum die Möglichkeit, sich auch von dem eigenen kulturellen | |
Hintergrund ein wenig zu entfernen. Das ist vielleicht der entscheidende | |
Punkt. Es gibt links-alternative Menschen, die Halloween immer noch als | |
US-amerikanischen Kulturimperialismus verstehen. Und es gibt Christen, die | |
Halloween als heidnisch brandmarken. (Von den russischen Behörden, die | |
Halloween als dekadent verbieten, einmal abgesehen.) Aber das alles ist ein | |
Riesenmissverständnis. | |
Denn gerade darum geht es ja an Halloween: darum, sich selbst fremd zu | |
werden. Hinter all dem Fun bieten die importierten Halloween-Rituale damit | |
den Rahmen für etwas, was in der modernen liberalen Gesellschaft | |
unabdingbar ist. Denn letztlich werden nicht Kulturkreise in andere | |
Kulturkreise integriert. Integriert werden Einzelne in die liberale | |
Gesellschaft. Dazu ist es wichtig, was manchmal nicht leicht ist, sich im | |
Zweifel auch von der eigenen Herkunft distanzieren zu können. Genau das | |
wird an Halloween für alle eingeübt. Und genau deshalb ist dieses Fest ein | |
Glücksfall. | |
30 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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