# taz.de -- Die Wahrheit: Vom richtigen Umgang mit Motten | |
> Ich lebe in der lokalen Mottenzuchtstation. Hier ist nichts steril und es | |
> muss überhaupt nichts für die Zucht getan werden. | |
Es war schon immer so: Insekten verstehen und respektieren mich nicht. Eine | |
würdevolle Kommunikation kommt niemals zustande, so sehr ich mich auch | |
bemühe. Längst habe ich die Hoffnung auf einen Erfolg aufgegeben. Wäre ich | |
Musiker, widmete ich dem Aneinandervorbeileben von Mensch und Insekt eine | |
aufrüttelnde Komposition. Entsprechendes könnte ich auch als Dichter | |
unternehmen, doch reizt mich so ein Blödsinn nicht. Was mich interessiert, | |
sind tote Motten. | |
Ich lebe in der lokalen Mottenzuchtstation. „Zuchtstation“ weckt gewiss | |
ganz falsche Assoziationen, denn hier ist nichts steril, und es muss | |
überhaupt nichts für die Zucht getan werden. Sie erledigt sich ohne | |
menschliches Zutun ganz von selbst. Den Motten müssen nur ideale Lebens- | |
und Brutverhältnisse geboten werden. Sie brauchen dunkle, ungestörte | |
Bereiche und ausreichend Nahrung – wie Teppichböden aus Schurwolle. Wie | |
viele Motten hier ansässig sind, entzieht sich meiner Kenntnis. An manchen | |
Tagen sehe ich keine, doch sie sind immer da und vermehren sich zuverlässig | |
an mir unzugänglichen, ja unbekannten Stellen der von mir bewohnten Räume. | |
Leider handelt es sich nur um kleine Motten, die nichts hermachen. Für das | |
Basteln mit Motten könnte ich mich auch begeistern, doch braucht man dafür | |
große Exemplare. Meinen Schreibtisch ziert ein Devotionalglas mit einer | |
großen toten Motte. Es ist eine schöne Bastelarbeit, die ich als Kind in | |
einer pädagogischen Einrichtung zu Ehren des Finanzamts hergestellt und | |
später auf verschlungenen Wegen erworben habe. | |
Unfassbarerweise entdeckte ich vor kurzem unter dem absolut luftdichten | |
Glassturz eine jener besagten kleinen Motten. Sie saß neben der toten | |
großen und lebte. Wie sie dort hineingekommen war, ist und bleibt eins der | |
auf ewig unlösbaren Rätsel dieser Welt. Kleine Motten waren überall, sogar | |
im Kühlschrank, weshalb also nicht auch in hermetisch geschlossenen | |
Devotionalgläsern? Nach ein paar Tagen war sie verschwunden, obwohl sie | |
ebenso wenig hinaus wie hinein gekonnt hatte. | |
Hier begann ich zu ahnen, dass den widerlichen kleinen Motten, diesem | |
blöden Ungeziefer, die Fähigkeit eignete, sich, zumindest in gewissen | |
Bereichen, über die Naturgesetze hinwegzusetzen. Sie konnten mitten im Flug | |
vor dem menschlichen Auge aus dem Raum-Zeit-Kontinuum verschwinden. | |
Offenbar vermochten sie auch, Glas spurlos zu durchdringen. Seit vielen | |
Jahrtausenden wünschte sich die Menschheit schon, Gleiches ebenfalls zu | |
beherrschen, war aber mit der Wunscherfüllung nicht nennenswert | |
vorangekommen. | |
Ausgerechnet ich schien dazu bestimmt, eines Tages dahinterzukommen, wie | |
die Motten das machten. Weit davon entfernt, mein Geheimwissen an | |
irgendeine Verbrecherbande zu verkaufen, nutze ich es ausschließlich privat | |
und habe schon viel Freude daraus gezogen. Die kleinen Motten tribulieren | |
mich nicht länger. Im Gegenteil: Zur Strafe für alles, was sie mir angetan | |
haben, lasse ich sie heute die Hecke schneiden. | |
15 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Eugen Egner | |
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