# taz.de -- Selbstorganisation von Flüchtlingen: „Im Hotel bist Du nur ein A… | |
> Der Kampf der Flüchtlinge und städtische Proteste? In Rom geht das | |
> zusammen, sagt Valerio Muscella, Autor einer Webdoku über die Besetzung | |
> eines Kongresshotels. | |
Bild: Vor dem Eingang des 4Stelle Hotel in Rom. | |
taz: Valerio Muscella, Sie sind Fotograf aber auch Aktivist. In den | |
vergangenen Wochen folgten Sie der Westbalkan-Flüchtlingsroute. Ich nehme | |
an, dass Ihre Rollen unterwegs oft nicht klar zu trennen waren. Können Sie | |
sich an einen bestimmten Moment erinnern, in der sich die Trennschärfe | |
auflöste? | |
Valerio Muscella: In Preseco, einem serbischen Dorf an der Grenze zu | |
Mazedonien, warteten Menschen in einer langen Schlange auf Eintritt in ein | |
temporäres Lager. Nach ein paar Stunden begann die Situation zu eskalieren: | |
3.000 Personen in einem zwei Meter schmalen, abgesperrten Korridor, die | |
alle in dieselbe Richtung drängten. Das war sprichwörtlich die Hölle. Da | |
habe ich einen Jungen neben seinem Vater ohnmächtig werden sehen. Der Vater | |
schaute mich an und ich verstand, dass ich ihm dabei helfen sollte, sein | |
Kind hinter die Absperrung zu bringen und nach einem Arzt zu suchen. Ich | |
musste das einfach machen. Wann der richtige Moment ist, um die Kamera | |
beiseitezulegen, werde ich wohl nie genau sagen können. Aber da vertraue | |
ich meinem Gefühl. Ich bin vielen FotografInnen, VideofilmerInnen und | |
JournalistInnen begegnet, die den Menschen auf ihrem Weg geholfen haben. Da | |
geht es nicht um die Vermischung von Rollen, sondern darum, das Richtige zu | |
tun. | |
Ein konstanter Strom von Bildern der gegenwärtigen Migrationsbewegungen | |
erreicht das Fernsehen und die sozialen Medien. Es scheint, als ob Hunderte | |
von Fotografen die Flüchtlinge begleiten. Was sind ihre Motive? | |
Solidarität, Neugier, das Bedürfnis sich zu profilieren? | |
Ob ihre Anwesenheit auf Solidarität und Empathie beruht oder | |
Karrieregründen geschuldet ist: Sie ist nötig, weil wir erfahren müssen, | |
was derzeit passiert. Während sie reisen, leben die Flüchtlinge in der | |
Schwebe, weil sie nicht mehr die sind, die sie in ihren Herkunftsländern | |
waren, aber auch noch nicht im europäischen System angekommen sind. Sie | |
fliehen vor Chaos und Krieg und werden um Asyl bitten, in der Hoffnung, | |
eine neue, von europäischen Instanzen erlaubte Identität anzunehmen. Dazu | |
müssen sie uns zeigen und beweisen, dass sie in ihrem eigenen Land gelitten | |
haben und bis zuletzt Opfer sind. Ihre Odyssee durch den Balkan kommt einer | |
völligen Auslöschung ihrer bisherigen Identitäten gleich. Ich finde, dass | |
diese Geschichte erzählt werden muss. | |
Ich traf eine Gruppe von Syrern in Griechenland und reiste mit ihnen bis | |
Ungarn. Wir haben viele Dinge miteinander geteilt und sind Freunde | |
geworden. Nun sind drei von ihnen in Deutschland, zwei in den Niederlanden | |
und drei in Schweden. Ich werde sie alle in den kommenden Monaten besuchen, | |
weil ich wissen möchte, was passiert, nachdem sie ihren Asylantrag gestellt | |
haben. Hilft mir das, mein eigenes Profil als Fotograf oder Aktivist zu | |
schärfen, heißt das: ich bin auf dem richtigen Weg. | |
Welche Art von Selbstorganisation haben Sie unter den Flüchtlingen | |
beobachtet? | |
Zunächst müssen sich die Flüchtlinge selbst über das Internet informieren, | |
um sich die ihnen fehlenden Kenntnisse über den Weg nach Europa anzueignen. | |
Ich habe viele die Grenzen passieren sehen, die danach den ihnen folgenden | |
Flüchtlingen über Facebook, Twitter oder WhatsApp berichten, was diese noch | |
zu erwarten haben. Flüchtlinge lesen auch die Online-Newsportale. Jedes | |
Land, das sie passieren, hat verschiedene Gesetze und Bedingungen, über die | |
sie sich kundig machen müssen. | |
Ist da nicht die Sprache eine Barriere? | |
Zwar ist Arabisch die Hauptsprache in den reisenden Gruppen, aber in jeder | |
findet sich leicht jemand, der Englisch spricht. Unter den Mitgliedern | |
solcher Gruppen konnte ich eine sehr starke Solidarität feststellen: | |
Frauen, Ältere und Kinder werden stets geschützt in dieser temporären | |
gemeinschaftlichen Bewegung. | |
Geschieht die Selbstorganisation entlang der nationalen, ethnischen und | |
religiösen Zugehörigkeit der Menschen? | |
Zu Beginn ihrer Reise organisieren sich die Flüchtlinge nach geografischer | |
Herkunft und Sprache, nach einigen Tagen des Unterwegsseins finden aber | |
unterschiedliche Menschen zueinander, aufgrund der harten Erfahrungen, die | |
sie zusammen durchgemacht haben. Ich habe viele heterogene Gruppen auf der | |
Westbalkanroute reisen sehen. Zum Beispiel war eine syrische Familie | |
gemeinsam mit mehreren pakistanischen Jungen und einem mittelalten Ehepaar | |
aus Afghanistan unterwegs. | |
Von einem selbstorganisierten Wohnprojekt handelt die interaktive | |
Webdokumentation [1][4Stelle Hotel], die Sie koproduziert und für die Sie | |
auch die Fotos gemacht haben. 4Stelle Hotel ist ein aufgegebenes | |
Kongresshotel am Stadtrand von Rom, das besetzt wurde – in der Mehrheit von | |
Flüchtlingen und MigrantInnen. Wie haben Sie sie kennengelernt? | |
Ich traf sie auf der Straße während der wohnungspolitischen Proteste 2011. | |
Die meisten Menschen, die nun im 4Stelle Hotel leben, waren obdachlos, | |
nachdem sie aus ihren Häusern zwangsgeräumt wurden. Sie waren schon zu | |
einer Gruppe zusammengewachsen, bevor sie das Hotel besetzten – dank der | |
Koordination durch den Blocchi Precari Metropolitani, eine der größten | |
Organisationen, die in den vergangenen zehn Jahren die Wohnungsnot in Rom | |
zum Thema gemacht haben. | |
In deutschen Großstädten gibt es nur punktuelle Berührungen zwischen | |
städtischen Bewegungen und der Selbstorganisierung von Flüchtlingen und das | |
auch erst seit kurzem. In Rom sind die Überschneidungen stärker und | |
entstanden viel früher. Was war der Auslöser? | |
Natürlich haben MigrantInnen und Flüchtlinge die Auswirkungen der | |
Wirtschaftskrise ab 2008 besonders zu spüren bekommen. Tag für Tag wurden | |
immer mehr von ihnen obdachlos. In Rom kamen wohnungspolitische Bewegungen | |
schon in den Siebzigern auf, aber heute ist die Situation viel | |
dramatischer, der Zugang zu sozialem Wohnungsbau ist fast unmöglich und die | |
Gentrifizierung frisst die Stadt. Die wohnungspolitischen Initiativen waren | |
die ersten, die die Bedeutung eines Zusammenschlusses zwischen den sozialen | |
Bewegungen, die in der Folge des G8-Gipfels 2001 in Genua noch immer | |
geschwächt waren, und den Flüchtlingen erfasste. Das Grundbedürfnis nach | |
einem Dach über dem Kopf verband sich mit dem wachsenden politischen | |
Bewusstsein der MigrantInnen. | |
Zwischen 2011 und 2014 wurden in Rom mehr als 40 verlassene Gebäude besetzt | |
und rund 7.000 Menschen nahmen an diesen Besetzungen teil. Und noch | |
vielmehr fluteten die Straßen von Rom, um ihr „Recht auf die Stadt“ | |
einzufordern. Ein nicht kleiner Teil von ihnen waren MigrantInnen und | |
Flüchtlinge. | |
Jetzt, da der Protest auf der Straße nicht so sichtbar ist, gibt es die | |
Kooperation zwischen wohnungspolitischen Initiativen und den MigrantInnen | |
und Flüchtlingen aber noch. | |
Ja, und sie wächst weiter. Die Beteiligung vieler Flüchtlinge und | |
MigrantInnen bei den Besetzungen hat ihre Rolle in der Gesellschaft | |
verändert. Es ist manchmal nicht mehr möglich zu erkennen, wo die | |
Wohnungsbewegung endet und wo der Kampf der Flüchtlinge anfängt. Ein sehr | |
gutes Beispiel ist die Teilnahme von MigrantInnen an den | |
Anti-Räumungswachen. Ich denke, das ist ein sehr eindringliches Bild, wenn | |
Flüchtlinge eine Familie vor einer Räumung schützen, egal, ob es sich bei | |
dieser um eine migrantische oder italienische handelt. | |
Wie lange haben Sie die BewohnerInnen des 4Stelle Hotel mit der Kamera | |
begleitet? | |
Ich habe an dieser Webdokumentation fast zwei Jahre gearbeitet – zusammen | |
mit dem Filmemacher Pablo Palermo. | |
Und wie haben Sie das Vertrauen der BesetzerInnen gewonnen, sodass Sie | |
Ihnen erlaubten, mit Fotoapparat oder Filmkamera so nahezukommen? | |
Was wir vorhatten, erklärten wir ihnen auf BewohnerInnenversammlungen. Und | |
während der ersten Monate haben wir unsere Kameras gar nicht in die Hand | |
genommen. Wir waren darauf konzentriert, neue Erfahrungen zu machen, die | |
Situation in dem Gebäude zu verstehen. Wir haben sehr starke Beziehungen zu | |
den BewohnerInnen des 4Stelle Hotel entwickelt und auch jetzt noch | |
empfinden wir diesen Ort als ein Zuhause. Wir sind Teil seiner Geschichte | |
geworden und die BewohnerInnen sehen das auch so. | |
Aber permanent dort gewohnt haben Sie nicht – so wie die Aktivistin Raffa, | |
die Sie in ihrer Webdoku ebenfalls porträtieren? | |
Ich habe dort viele Nächte geschlafen, aber ich bin nicht eingezogen. | |
Während ich der Geschichte des 4Stelle Hotels folgte, war ich als | |
unterbezahlter Sozialarbeiter in einem Erstankunftszentrum für Asylsuchende | |
und Flüchtlinge in einem anderen Außenbezirk Roms beschäftigt. Ich | |
arbeitete vier Jahre dort, meistens nachts. | |
Ihr Projekt 4Stelle Hotel fokussiert vorwiegend auf die positiven Aspekte | |
der Selbstorganisation einer multiethnischen Community. | |
Ja, wir haben uns dazu entschieden, weil wir der negativen Berichte in den | |
Mainstreammedien müde waren. Eine der bekanntesten italienischen Zeitungen, | |
Il Messagero, bezeichnete das 4Stelle Hotel als ein „römisches Bagdad, in | |
dem es leicht sein wird, Drogenhändler und andere Kriminelle zu finden“. | |
Wegen solcher Behauptungen haben viele Menschen Angst vor Orten wie dem | |
4Stelle Hotel. Wir wollten eine andere Perspektive anbieten, jenseits der | |
üblichen Stereotype über Besetzungen. | |
Andererseits kann das Leben im 4Stelle Hotel doch nicht frei von Konflikten | |
sein? | |
Natürlich nicht. Zu Beginn ergaben sich Probleme aus den Unterschieden in | |
Sprache, Religion und Tradition. Aber das Zusammenleben hat die Haltungen | |
der BewohnerInnen geändert: „Wenn Du anderswo ein sudanesisches Arschloch | |
bist – im 4Stelle Hotel bist Du nur ein Arschloch“, hat Ibrahim, ein | |
sudanesischer Flüchtling, der in dem Hotel wohnt, mir gegenüber geäußert. | |
Die Tatsache, dass die BewohnerInnen Konflikte miteinander austragen – ist | |
das nicht ein positiver Aspekt? Viele MigrantInnen, die in der Stadt leben, | |
versuchen unsichtbar zu sein. Im 4Stelle Hotel können sie sich selbst | |
ausdrücken und sind dabei weniger kulturellen Stereotypen ausgesetzt. | |
Wie ist die gegenwärtige Situation im 4Stelle Hotel. Ist das Gebäude noch | |
besetzt? | |
Ja, aber die Kommune hat schon sehr häufig die Elektrizität und die | |
Wasserversorgung abgestellt. Ein Indiz dafür, dass das Risiko einer Räumung | |
weiter sehr hoch ist. In diesem Fall hoffe ich, dass viele Menschen, die | |
sich unsere Webdokumentation angeschaut haben, auf den Weg zum 4Stelle | |
Hotel machen, um es zu schützen. | |
23 Sep 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.4stellehotel.it/ | |
## AUTOREN | |
Oliver Pohlisch | |
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