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# taz.de -- Die Wahrheit: Unter Morchelmördern
> Der listige Schlauchpilz ist anderen Pilzen an Intelligenz und Schönheit
> überlegen. Die Morchelpirsch gilt unter Kundigen deshalb als
> Königsdisziplin.
Bild: In ihrem Tarnkleid ist die Morchel für den ungeübten Betrachter so gut …
„Pilze sind immer schon sehr nachdenkliche Leute“, meinte vor einiger Zeit
ein Kulturwissenschaftler auf einer Konferenz der Akademien der
Wissenschaften und der Künste in Potsdam, auf der es um Gemeinsames und
Trennendes zwischen Kunst und Wissenschaft ging. Dem Pilzsammler Karl
Berchthold war das zu pauschal: „Morcheln sind die schlausten Pilze“,
behauptet er auf seiner Morchel-Internetseite. Man möchte es aber doch
genauer wissen. Zum Glück erschien soeben der reich bebilderte Ratgeberband
„Faszination Morchel“ des passionierten Schweizer „Morcheljägers“ Heinz
Gerber.
Zwar gehören die Morcheln zu den Pilzen, aber auch Gerber hält die Morcheln
für etwas „Besonderes“. So zum Beispiel die „Halbfreie Morchel“, die �…
als unergiebig und weniger wertvoll bezeichnet wird.“ Gerber besteht
darauf: „Sie braucht einen Vergleich bezüglich Qualität mit ihren
Verwandten ganz und gar nicht zu scheuen.“
## Tarnkünstlerin ersten Ranges
Jeder kennt das, selbst die teuersten Pilzbücher erweisen sich im Revier
als wenig hilfreich, weil die Pilze „in Wirklichkeit“ ganz unterschiedlich
aussehen. Noch weiter gehen die Morcheln – laut Gerber: „Die Morchel
versteht es wie kaum ein anderer Pilz, sich unseren Blicken und unserem
Zugriff zu entziehen. Sie ist eine Tarnkünstlerin ersten Ranges und oft
scheint es, als besitze sie Mimikry-Fähigkeiten.“ An anderer Stelle heißt
es, dass sie sich sogar (weg)„ducken“ kann. Was also tun?
Man muss seine Sinne konsequent auf Morcheln trainieren. Der Autor hat dazu
die inzwischen umstrittene Reflextheorie von Iwan Pawlow für die
Morchelsucher nutzbar gemacht. Der „Neuling“ sollte erst einmal innehalten,
wenn er einen Standort gefunden hat, und die natürliche Umgebung der
Morchel in Ruhe aufnehmen: „So lassen sich Auge und Hirn auf die Morchel
konditionieren, d. h. sobald das Auge eine Morchel oder mit
fortschreitender Übung auch nur ein Fragment hiervon erblickt, wird ein
Reiz ausgelöst und unser Hirn reagiert blitzschnell mit der Botschaft
‚Morchel‘.“
Damit diese Konditionierung nicht nachlässt während der morchellosen Zeit
(zwischen Juli und März), empfiehlt Gerber, sich ein „Morchel-Bildarchiv“
aufzubauen. „Des Weiteren“, schreibt er, „stimulieren meinen Sehsinn eini…
Morchel-Exponate in der Glasvitrine neben dem Bürotisch“ (in seinem
Morchelbuch findet der Anfänger einige Such-Fotos zum Trainieren).
## Bekleidung auf der Pirsch
Für die eigentliche „Morchelpirsch“ rät Gerber zu „robusten Wanderschuh…
und „atmungsaktiver Bekleidung in dezenten Grau- und Grüntönen“. Also
nichts Grelles, wie es heute zum Beispiel bei Sneakers Mode ist. Bei solch
einer auffallenden Kleidung verstecken sich die scheuen Morcheln vermutlich
sofort. Weit gefehlt, es geht Gerber, in dessen Revieren „oft Morchelsucher
in (grell) farbigen Kleidern unterwegs sind“, darum, dass diese „Mörcheler…
leicht beobachtet werden können „und so ihre Fundstellen unfreiwillig
verraten. Für den erfahrenen Morchelsucher gilt dagegen das Motto: ‚Sehen,
aber nicht gesehen werden‘.“
Um das Wissen über die Morchel-Vorkommen zu vermehren (manche etwa trifft
man gerne unter Eschen an), empfiehlt Gerber das Führen eines Tagebuchs, um
Fundstellen und -zeiten zu notieren und eine „Saisonplanung“ vorzunehmen.
Wem das übertrieben vorkommt, der muss sich sagen lassen: „Die
Morchelpirsch hat wenig gemein mit der Pilzsuche im Sommer und Herbst,
außer dass das Zielobjekt auch zur Pilzfamilie gehört.“
Nach diesem aus dem militärischen Tötungswortschatz übernommenen Begriff
„Zielobjekt“ wird dieses aber ganz im Sinne des Schweizer Jägerkodex sofort
hymnisch verklärt: „Der Morchelfreund betrachtet diese von der Mutter Natur
geschaffene Gabe mit Ehrfurcht und lässt deren Frische, Reinheit und
Ausstrahlung auf sich wirken.“ Schön und gut, aber gilt beim Gabentausch
nicht zwingend, als oberste Benimmregel quasi, eine Gegengabe? Sonst ist es
schnöder Diebstahl.
## Bei der Pilzkontrolle
„Pilzkontrollen“ sorgen dafür, dass Obergrenzen nicht überschritten werden
von allzu gierigen Morchelsammlern. Zudem bieten sie „unkundigen Sammlern“
eine Hilfe bei der Auswahl der Pilze: Die giftigen, ungenießbaren und
überalterten werden einbehalten und vernichtet. So etwas gibt es auch im
Berliner Botanischen Garten. Dort spricht man von „Pilzberatung“. Der dafür
zuständige Biologe schreibt – reichlich überheblich: „Pilzberatung muss z…
Entzauberung beitragen.“ Dieses Diktum – vom soziologischen Pilzjäger Max
Weber 1917 geprägt – ist ebenfalls überholt. Heute muss die Pilzberatung
eher zur Verzauberung beitragen. Heinz Gerber ist das am Beispiel der
Morcheln durchaus gelungen.
29 Sep 2015
## AUTOREN
Helmut Höge
## TAGS
Pilze
Herbst
Kulturwissenschaft
Biologie
Tiere
Ornithologie
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