# taz.de -- Nobelpreisträger Eric Kandel in Berlin: Die Wahrheit unter der Haut | |
> Der Neurowissenschaftler Eric Kandel sprach an der American Academy über | |
> das Unbewusste in Kunst und Wissenschaft. | |
Bild: Eric Kandel bei der American Academy in Berlin. | |
Es ist ein großes Glück, Berichten aus einem gelungenen Leben zuzuhören. Er | |
sei nicht mehr so jung, wie er aussehe, hatte Eric Kandel gleich zu Beginn | |
seines Vortrags am Mittwochabend in der American Academy am Wannsee gesagt. | |
Und das stimmte schon mal und machte auf eine angenehme Weise klar, worum | |
es an diesem Abend auch ging: um Wahrheit. | |
Kandel, 1929 in Wien geboren und 2000 mit dem Nobelpreis für Physiologie | |
oder Medizin ausgezeichnet, ist einer der bekanntesten Neurowissenschaftler | |
unserer Zeit. Generationen von Physiologiestudenten oder irgendwie mit | |
Lernformen beschäftigte Lernende wie Lehrende kennen seinen Namen. | |
Kandels Forschungen an den basalen neuronalen Mechanismen bei der | |
Meeresschnecke Aplysia stehen in jedem Lehrbuch. Kandel gehört aber nicht | |
zu jenen Neurowissenschaftlern der Gegenwart, die glauben, mit ein paar | |
computergenerierten Falschfarbenbildern die ganze Welt erklären zu können. | |
Kandel ist kein Superpositivist, der glaubt, das Unbewusste trockenlegen zu | |
können wie einen mückenverseuchten Sumpf. Was man schon am Titel seines | |
Vortrags ablesen kann: „The Age of Insight: The Quest to Understand the | |
Unconscious in Art, Mind, and Brain, from Vienna 1900 to the Present”. | |
Wobei man hierzulande wahrscheinlich wirklich noch einmal betonen muss, | |
dass Unconscious das Unbewusste ist und nicht ein öminöses Unterbewusstes, | |
da es selbst Kandels deutscher Verlag schafft, auf dem Cover von Kandels | |
Hauptwerk zu dem Thema des Abends, „Das Zeitalter der Erkenntnis“, im | |
Untertitel von der „Erforschung des Unterbewussten“ zu reden. Es ging also | |
um die Erfindung und Erforschung des Unbewussten durch die Wissenschaft und | |
die Kunst. Mit dem „und“ ist dann auch schon klar, dass es für Kandel | |
verschiedene Wahrheitsprozeduren gibt und nicht nur die eine der | |
Wissenschaften. Wie es für Kandel auch überhaupt keine Frage ist, dass | |
Wissenschaften wie Kunst immer unter den Bedingungen ihrer Gesellschaften | |
existieren. | |
## Das Zeitalter der Erkenntnis | |
Kandel gab zu Beginn einen kurzen Abriss der Wurzeln, die der Entdeckung | |
des Unbewussten vorausgingen. Dabei spielt für ihn die Entwicklung einer | |
systematisch empirischen Medizin eine wichtige Rolle, die er um 1800 in | |
Paris beginnen lässt. Und es war wirklich verblüffend, mit welcher | |
Nebensatzselbstverständlichkeit Kandel diese Tatsache mit den | |
fortschrittlichen Impulsen, die von der Französischen Revolution ausgingen, | |
in Verbindung brachte. | |
Genauso selbstverständlich war es für ihn, dass die fortschrittliche | |
Medizin mit dem Sieg des reaktionären Monarchismus in Frankreich 1840 nach | |
Österreich auswanderte. In Wien war es dann vor allem der Chefpathologe des | |
Wiener Allgemeinen Krankenhauses, Carl von Rokitansky (1804–1878), der ab | |
der Mitte des 19. Jahrhunderts jede Leiche, die in der Stadt zu verzeichnen | |
war, einer Autopsie unterzog. Mit seinen Mitarbeitern führte Rokitansky so | |
rund 60.000 Autopsien durch. | |
Mit dem Ergebnis, dass nun klar war, dass die Wahrheit in vielen Fällen | |
unter der Oberfläche, unter der Haut zu suchen ist. Das war eine damals | |
einmalige Praxis, die Wien zu einem Pilgerort von Medizinstudenten aus der | |
ganzen Welt, vor allem aus den USA, machte. Auch Freud hatte bei Rokitansky | |
studiert, und wenn man Kandel folgte, war es wirklich evident, dass in der | |
Folge Freud, den Kandel „den Darwin des Geistes“ nennt, und Arthur | |
Schnitzler das Unbewusste in Wien entdeckten. | |
Man glaubte Kandel sofort, dass die Entdeckung des Unbewussten in Wien aus | |
einem fruchtbaren Dialog von empirischer Medizin und Kunst entstanden ist. | |
Eine Gewissheit, die sich auch nicht änderte, als er diese These an | |
Bildinterpretationen von Gustav Klimt, Oskar Kokoschka und Egon Schiele | |
ausführte und dabei auch zeigte, wo die Künstler besser waren als Freud. | |
Von weiblicher und kindlicher Sexualität verstanden sie wirklich mehr als | |
der Puritaner aus der Berggasse. | |
## Dialog zwischen Biologie und Kunst | |
Der Dialog zwischen Kunst und Medizin war aber nur die erste Phase der | |
Wiener Erkundungen, die zweite war nicht weniger spannend. Kandel sieht sie | |
im Dialog zwischen Psychologie und Kunst und verkörpert in den | |
Kunsthistorikern Alois Riegl, Ernst Kris und Ernst Gombrich. Die drei | |
hätten nicht nur die Kunstgeschichte als Wissenschaft etabliert, sie hätten | |
mit der Einführung eines aktiven Betrachters in die Kunst auch deren | |
Rezeption, wenn noch nicht an die Biologie der Wahrnehmung, so aber doch an | |
die physiologischen Voraussetzungen jeder Kunst gebunden. | |
Damit hatten sie dann auch den Weg zu Kandels dritter Phase auf dem Weg ins | |
Unbewusste vorbereitet, auf den Dialog zwischen Biologie und Kunst. | |
Vortragstechnisch entpuppt sich diese dann als die schwierigste. Manche | |
Menschen dämmern nämlich sofort weg, wenn man ihnen ein Schema der | |
verschiedenen Hirnregionen zeigt und mit Pfeilen von einem Hirnfeld zum | |
nächsten führt. An Kandels grandiosem Gang durch die bildhaften wie | |
sprachlichen Spuren des Unbewussten konnte das aber keine nachhaltig | |
negativen Spuren hinterlassen. | |
11 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Cord Riechelmann | |
## TAGS | |
Kunst | |
Erinnerungen | |
Medizin | |
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