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# taz.de -- Durchgangsstation Budapest-Ostbahnhof: Khaleds Schokoriegel
> 2.000 Fliehende warten an Budapests Ostbahnhof auf ihren Zug in ein
> besseres Leben. Einzelne Bürger leisten Hilfe, der Staat schickt nur die
> Polizei.
Bild: Notgedrungen sind die Treppenabsätze am Budapester Ostbahnhof zur Spielf…
BUDAPEST taz | Ein Mann hält einen kleinen Jungen auf dem Arm. Er blickt
ratlos. Der dicke Schokoladenriegel, den er dem Jungen gerade gegeben hat,
ist geschmolzen. Mit seinen kleinen Fingern hat Khaled, so wird das Kind
genannt, die Schokolade umklammert. Seine Finger kleben, seine Handflächen
sind verschmiert.
Khaled streckt seine schmalen Arme in die Höhe, seine hellblauen Augen
blicken teilnahmslos in den wolkenlosen Himmel. Es wirkt, als sei er
erstarrt, eingefroren für eine Zeit, in der ihn jemand weckt, in der er
wieder aufwachen kann und ihm jemand sagt, dass nun alles gut wird. Es
kommt aber niemand.
Khaled ist zwei Jahre alt, vielleicht auch drei. Er ist auf der Flucht und
er ist verloren gegangen. Ein Mann hat ihn vorhin gefunden, wie er sich
allein seinen Weg bahnte, entlang der blauen Hosenbeine uniformierter
Polizisten, entlang am Gleis 6, dann durch die Bahnhofshalle hinaus, die
massiven Treppenstufen hinab und durch die Menge der Hunderte Menschen, die
hier auf dem Bahnhofsvorplatz an Budapests Ostbahnhof auf dem Steinboden
liegen. Menschen, die ihre Babys in den Armen halten, die vor der
Polizeiabsperrung eng an eng aneinanderstehen. Manche schreien, und
teilweise jubeln sie sogar.
Wo sind Khaleds Eltern? Wo in dieser fremden Stadt in diesem Land, das er
nicht kennt, sind sie geblieben? Und wo kommt Khaled her?
Budapest-Keleti ist ein prunkvolles Bahnhofsgebäude. Hinter seiner weißen
Fassade war er einst – 1881 erbaut – einer der modernsten Bahnhöfe Europas.
Heute ist er das Drehkreuz von Tagespendlern, Ausgangsort der wichtigsten
Fernverbindungen.
Heute, an diesem Dienstagmorgen, ist der Bahnhof eine Art Abbild von
Ratlosigkeit, die allmächtig scheint. Ein Ort, an dessen Eingangsstufen
schon es nach Schweiß und faulenden Lebensmittelresten riecht.
Ein Mann, den niemand kennt, lässt nach den Eltern von Khaled ausrufen. Er
weiß nicht einmal, ob Khaled wirklich Khaled heißt, aber das ist zumindest,
was er verstanden hat.
In Budapest-Keleti gab es am Montag noch, zumindest kurz, diese Gleise, die
in ein neues Leben führten. Gleis 6, Gleis 7 und 8.
Einige Stunden lang hatte die Polizei völlig überraschend die
Bahnhofskontrollen eingestellt, plötzlich durften Fliehende einfach in die
Züge nach Wien und München steigen, so als sei das hier für alle ein freies
Europa, so als könne jeder einfach so ein Zugticket kaufen und ausreisen.
Hunderte Menschen stürmten die Ticketschalter, Frauen drängten sich
aneinander, hielten die Pässe ihrer Familien im Stapel bereit, mal fünf
Pässe, mal sechs, manchmal acht, warteten fünf Stunden lang, dann sieben,
dann neun, bis am Abend die Nachricht in ganz Europa für Schlagzeilen
sorgte, bis Regierungssprecher sich geäußert hatten und bis schließlich
kein Zug mehr fuhr, der sie mitnahm.
Vorbei die Reisefreiheit, es waren nur ein paar Stunden.
## Abgezählte Weißbrotscheiben
Ein Mann mit einem Rauschebart steht in einer Menge hungriger Männer.
Gerade sind es nur achtzig. Er verteilt Wasser an sie, grüne Äpfel und auch
Weißbrotscheiben. Er blickt so stoisch und gezielt in die Runde, aber dann
schubst er die jungen Männer von sich weg, schreit sie an, er befiehlt
ihnen, Platz zu machen, zurückzugehen.
Es ist Thomas Lederer, eigentlich ein Finanzfachmann und Hochschullehrer,
und wenn es ihn und seine drei Dutzend Helfer nicht gäbe, dann wären auf
dem Platz rund um den Bahnhof Keleti womöglich auch schon Menschen
gestorben, zumindest hätten sie sich geschubst und geprügelt und nicht
gewusst, wo es etwas zu essen gibt.
Thomas Lederer kümmert sich auch notfalls als Klempner um das improvisierte
Wasserrohr, an dem sich die Menschen auf diesem Bahnhofsvorplatz waschen
können und etwas trinken. Denn es gibt keine staatlichen Hilfen und auch
kein Rotes Kreuz und kein Brot für die Welt.
Lederer und seine freiwilligen Helfer – zu ihnen zählen Studenten, Schüler,
Budapester Bürger – sind die Einzigen, die die Tausenden Fliehenden
versorgen, die hier ausharren und auf Züge hoffen, die nachts auf den
blanken Steinplatten schlafen, auf denen sich alte Kaugummis festgetreten
haben. „Migration Aid“ nennen sich die Kollegen von Lederer.
„Wir betreiben hier das größte Flüchtlingscamp Ungarns“, sagt Lederer. �…
zwar auf eigene Faust.“ Neulich, erzählt er empört, habe er sich an die
Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen gewandt. „Wo ist sie?“ Für
Lederer ist Budapest-Keleti nichts anderes als das humanitäre Krisenzentrum
Europas.
Die ungarische Regierung? Will von diesen Fliehenden nichts wissen. Als
Lederer vor einigen Wochen begann, abgezählte Weißbrotscheiben zu
verteilen, waren es noch einige hundert Fliehende, die hier am Bahnhof
warteten und teilweise auch hungerten.
## Eine Familie liegt mit ihren Kindern auf dem Boden
Wenn er heute über das Bahnhofsgelände geht, sieht er Tausende Menschen,
ein Panorama der Flucht: ein Mädchen mit feinem Haarschnitt und einer
grünen Haarspange, vier Jahre alt, das vor einer Holzbank steht und
neugierig ihren Fund sortiert. Sie hat einen großen Popcornbecher aus Pappe
entdeckt. Es ist Müll darin. Eine leere Pommesschale von Burger King, ein
leerer Cola-Becher, zwei Bananenschalen. Sie sortiert es wie das Spielzeug
aus einer Wundertüte.
Einige Meter entfernt liegt eine Familie auf einer Wolldecke auf dem
Fußboden, Vater, Mutter, Kind. Sie sind eingeschlafen. Das Kind, vielleicht
ein paar Monate alt, liegt mit nacktem Po in der Sonne. Ein Mann von
Lederers Leuten trägt in einer blauen Ikea-Tüte Babynahrung, die er an
junge Mütter mit ihren Babys verteilt. Doch wohin er auch geht, hinter ihm
drängt stets eine Traube junger Männer, sie greifen ihm in die Tasche,
versuchen ihm die Nahrung zu stehlen. Er schlägt dann mit seinen Fäusten,
so fest er kann, nach hinten, versucht sie zu treffen, sie abzuhalten, von
sich zu stoßen.
Der Mann, der Khaled auf dem Arm trägt, zupft nun an der Uniform eines
Polizisten. Der dreht sich nur weg, er versteht ihn nicht. Er denkt, dass
Khaled sich nur die Schokolade säubern will. Er versteht nicht, dass dieses
Kind seine Eltern verloren hat. Die Polizei hat hier keine eigenen
Dolmetscher. Khaled hält seine Schokohände in die Luft und lächelt.
Kobani, Aleppo, Damaskus, viele von denen, die hier sind, kommen mitten aus
dem Krieg in Syrien. Seit dem Zweiten Weltkrieg waren nicht mehr so viele
Fliehende in Europa unterwegs wie in diesem Sommer. 2.000 von ihnen stehen
an diesem Dienstag vor dem Bahnhof Keleti. Er ist wieder verriegelt. Nur
Backpacker dürfen hinein, und, vor allem, hellhäutige Ungarn. „Merkel“,
rufen sie. „Germany! Merkel, Merkel.“
Es erinnert ein bisschen an damals, jenen 9. September 1989, als
Deutschlands Außenminister Hans-Dietrich Genscher im Garten der Prager
Botschaft sein Wort an die dort ausharrenden Geflüchteten der DDR richtete.
„Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre
Ausreise …“, sagte er. Es wäre durchaus an der Zeit, dass heute auch so
jemand käme, hier nach Budapest. Aber wer soll das sein? Wieder und wieder
rupft der Mann dem Polizisten am Ärmel, er lässt ihn nicht in Ruhe. Dann
zeigt er auf den kleinen Khaled. Es ist aussichtslos. Der Polizeibeamte
zuckt mit den Schultern.
1 Sep 2015
## AUTOREN
Martin Kaul
## TAGS
Schwerpunkt Flucht
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