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# taz.de -- Flüchtlinge in Wohngemeinschaften: Der Frieden von Esslingen
> Ahmad hat eine lange Reise hinter sich. Über ein Jahr dauerte seine
> Flucht aus Afghanistan nach Deutschland. Dann traf er Judith und Viktor.
Bild: Ein Zimmer in der Flüchtlingsunterkunft, in der Ahmad zuerst unterkam
ESSLINGEN taz | Eine Wohngemeinschaft in Baden-Württemberg, Esslingen,
genauere Angaben sind nicht erwünscht. Ahmad möchte anonym bleiben, denn
bevor er hierher kam, flüchtete der junge Mann aus Afghanistan vor den
Taliban. Sie töteten und plünderten in seinem Dorf. Ein Jahr und ein Monate
dauert seine Flucht nach Deutschland.
Ohne Papiere, aber mit der Hoffnung auf eine Zukunft ohne Terror. Kein
Vergleich dazu das Flüchtlingsheim, in dem er schließlich unterkommt. Über
zwei Jahre bleibt er dort und dann endlich die WG. Seit Anfang des Jahres
lebt er hier. Als sich seine Mitbewohner Judith und Viktor für ihn
entscheiden, zieht auch seine Erinnerung an den Krieg mit ein.
Ahmad sitzt am Küchentisch und fürchtet das Falsche zu sagen. Misstrauisch
beobachtet er den Schreibblock auf der anderen Seite des Tisches. Seine
Worte über die Flucht werden notiert. Das erinnert ihn daran, wie er damals
in Deutschland ankommt. Behörden. Auch sie stellten ihm Fragen. Er fürchtet
damals, dass er bei falschen Antworten wieder zurück müsse zu den Taliban.
Jetzt sitzt er neben Judith. „Nenne mich Judith, denn diesen Namen finde
ich schön“, sagt sie. Die richtigen Namen sollen auch von ihr nicht in der
Zeitung auftauchen. Auch Ahmad, 22 Jahre alt, heißt eigentlich anders.
In dem Flüchtlingsheim, in dem er wohnte, wurde ein Freund nachts von der
Polizei aufgeweckt. In der Dämmerung ist es einfacher abzuschieben. Auch
engagierte Helfer schlafen mal. Ahmad will nicht in Afghanistan aufwachen.
Er kommt nicht los von seiner Vergangenheit. In dem Dorf, in dem er
aufwuchs, war er einer von 800 Einwohnern. Internet gab es nicht. Seine
Eltern müssten reisen, um zu erfahren, wie es ihren Sohn in Esslingen geht.
Seit der Flucht melden sie sich nicht mehr. Sie haben dort mit anderen
Dingen zu kämpfen. Denn seit er denken kann plündern und morden Taliban in
seinem Geburtsort. Wann genau sie zuschlagen, weiß man nie.
„In Afghanistan kann man nicht leben“, erklärt er seinem zurückgelassenem
jüngeren Bruder einmal, als der ihn anruft. Er will wissen, wo Ahmad ist.
Im Iran. Das war noch am Anfang seiner Flucht. „Zu Fuß, mit Auto und mit
dem Pferd“.
## Sein erster Tag im Flüchtlingsheim
Ahmad reist mit anderen jungen Menschen. Sein erster Tag im Flüchtlingsheim
in Esslingen scheint anfangs einsam. Zwar hat die Arbeiterwohlfahrt ein
Büro in dem abgelegenen Gebäude in einer kleinen Seitenstraße nahe einer
größeren Moschee. Doch ist dieses nur zweimal in der Woche zwischen 9.30
Uhr und 12 Uhr besetzt.
Als Ahmad in Esslingen ankommt, hat es geschlossen. Später erklären zwei
afghanische Mitbewohner, dass morgen wieder jemand kommen würde. Sie sind
es auch, die ihm sein Zimmer zeigen. Weitere Details über die Ankunft
behält er für sich.Schüchtern ist er heute immer noch. Obwohl er sich
verändert hat: „Der Kühlschrank ist für alle da. Das musste er erst lernen.
Er ist viel zurückhaltender“, erzählt Judith, 32 Jahre alt, Esslingerin.
Vor sieben Monaten entscheidet sie sich zusammen mit ihrem Freund für Ahmad
als neuen Mitbewohner.
Viktor kommt gerade von der Arbeit: „Wir haben einen neuen Mitbewohner
gesucht und der kommt halt aus Afghanistan. So what?“, sagt er. Wie Judith
ist er auch beim Stadtjugendring tätig. Mit Ahmad zusammen zu wohnen ist
für ihn kein soziales Projekt.
Ob Ahmad hier bei Judith und Viktor bleiben darf, ist ungewiss und
kompliziert. „Offiziell anerkannt ist er nicht. Es geht jetzt um die
Verlängerung des Aufenthaltstitels“, sagt Judith. Ahmad will nicht gehen.
Er will bleiben.
„Die Taliban haben alles zerstört. Man kann nicht zur Schule gehen. So ist
das.“
Judith hilft ihm mit der Sprache. Zusammen lesen sie „Harry Potter und der
Stein der Weisen“. Wenn Post für Ahmad kommt, übersetzt Judith. Nicht ins
Deutsche, denn Ahmad versteht inzwischen alles. Sie muss die bürokratischen
Vokabeln in verständliche Worte fassen. Trotz Deutsch- und
Französisch-Studium und einem Abi-Schnitt von 1,0 fällt ihr das schwer. In
einem der letzten Briefe steht, dass Ahmad offiziell noch ein weiteres Jahr
bleiben darf.
## Der Tod des Skorpions
Judith fragt Ahmad, ob er einen Eiskaffee machen kann. Ohne zu antworten
steht ihr Mitbewohner auf, während sie aus beschrifteten Schachteln
Strohhalme organisiert.
In Afghanistan hat Ahmad immer grünen Tee getrunken. Mit elf probiert er
zum ersten Mal Opium. Manchmal träufelt seine Mutter ein bisschen davon in
seinen Tee, damit er nicht so quengelt. Auch gegen Kopfschmerzen sei es
gut. „Dann genießt du das Leben. Dann denkst du, du bist der Boss der
Welt“, sagt Ahmad über seine Erfahrung mit Opium. In Afghanistan sagt man
über die Skorpione, dass sie sterben würden, wenn sie einen Opiumabhängigen
mit ihrem Giftstachel stechen.
Manchmal nannten sie ihn falscher Muslim. Das ärgerte ihn. Ahmad akzeptiere
alle Propheten. Für ihn komme es auf ein gutes Herz an.
Viktor ist von der Arbeit erschöpft und öffnet die Tür zur Dachterrasse der
WG. Seine beiden Mitbewohner genießen hier inzwischen auf dem Boden sitzend
die letzten Sonnenstrahlen des Tages. Häuser versperren ihnen den Blick in
die Ferne. Um Viktor, Judith und Ahmad herum wächst es grün und rot aus den
Töpfen und Kästen. Hier grillen sie manchmal. Oft kommen sie zusammen und
erzählen sich vom Tag. In letzter Zeit passiert das nicht so oft. Die
Arbeit beim Stadtjugendring hat Viktor und Judith im Griff. In den
gemeinsamen Momenten wollen sie Ahmad nicht drängen, von der Vergangenheit
zu berichten.
Auch Ahmad ist oft beschäftigt. In einer kleinen Bar, die so gut besucht
ist, dass sie gegen 20 Uhr kein Essen mehr verkaufen können, arbeitet er ab
und zu. Auch die vielen Freunde, die er inzwischen kennengelernt hat,
müssen besucht werden. Und dann ist da noch der Unterricht.
In Afghanistan ging Ahmad nur zwei Jahre lang zur Schule. Als er in
Esslingen ankommt, will er lernen. Ahmad eignet sich schnell die deutsch
Sprache an. In Mathe ist er eher mittelmäßig – 3,5. Aber er ist Stolz auf
sein Zeugnis. Denn seit gestern hat er einen Hauptschulabschluss. Wenn es
nach ihm geht, möchte er eine Ausbildung zum Metallbauer absolvieren.
Weil er schon an der Schule war und bereits einige Freunde hatte, fiel es
Judith und Viktor leichter, sich für ihn als neuen Mitbewohner zu
entscheiden. Eine engagierte Mitarbeiterin der Arbeiterwohlfahrt
vermittelte den Kontakt.
„Die Tatsache, dass es über die AWO läuft, war für uns eine Sicherheit“,
erzählt Judith. Die Mitarbeiterin betreut Ahmad schon in der Zeit, als er
noch mit zwei anderen geflüchteten Menschen aus Afghanistan in einem Zimmer
in dem Flüchtlingsheim lebt. Damals unternahm Judith den ersten Schritt.
Sie telefonierte mit den zuständigen Ämtern. Doch ihr WG-Zimmer möchte
anfangs niemand für einen Geflüchteten vermitteln. Judith arbeitet sich
durch Warteschleifen und großes Unverständnis. Schließlich kommt sie mit
der Arbeiterwohlfahrt ins Gespräch.
Die meisten Anlaufstellen sind von Judiths Anfrage überrumpelt. Judith kann
nicht begreifen, dass nur so wenige Menschen mit geflohenen Menschen
zusammenleben wollen. Gerade die, die freie Räume in ihren Häusern haben,
müssen was tun. Das Geld für Ahmads Zimmer wird regelmäßig vom Amt bezahlt.
Der Hauptvermieter weiß nicht Bescheid. „Geht ihn auch nichts an“, stellt
Judith klar.
## Der Zeugnisburger
Eine schmale Treppe, die zum Stolpern einlädt, führt die drei vom Flachdach
nach unten in den Hinterhof aus ihrer Wohnung. Die drei haben Hunger. Ahmad
soll einen „Zeugnisburger“ geschenkt bekommen. Afghanistan scheint in
diesem Augenblick ganz weit weg für die WG.
Zwei fast zusammenstehende Häuserwände, geben den engen Weg zur Hauptstraße
frei. Kaum jemand kommt ihnen auf den Weg ins Restaurant entgegen. Das sei
typisch für Esslingen. Selbst als Viktor und Judith hier zum ersten Mal
Silvester feiern scheint die Stadt wie ausgestorben.
Die Frauen im Restaurant trinken Wein und die Männer ausschließlich Bier.
Ein betont gut gelaunter Kellner schreibt sich die Burgerbestellung von
Ahmad auf. Die Höhe des Preises für sein Geschenk macht Ahmad nervös. Aber
Judith lässt nicht mit sich verhandeln. Für einen Schulabschluss gibt es
auch einen Zeugnisburger.
Ahmad löst die Spannung selbst, als er erzählt, dass in seinem Geburtsland
die Speisekarten von rechts nach links gelesen werden. Die Flucht spielt an
diesem Abend nur noch eine kleine Rolle. Und auch die Angst, etwas Falsches
zu sagen, ist verflogen.
6 Sep 2015
## AUTOREN
Andre Beinke
## TAGS
Flüchtlinge
Schwerpunkt Afghanistan
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Unterbringung von Geflüchteten
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