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# taz.de -- Müllkrise im Libanon: „Auch unsere Politiker stinken“
> Abfallberge und eine Politik, die durch Korruption und Konfession
> bestimmt ist. Tausende demonstrieren in Beirut und fordern Neuwahlen.
Bild: Mief: Berge von Abfall mitten in Beirut.
BEIRUT taz | Für viele Libanesen stinkt derzeit nicht nur der Müll, sondern
ihr gesamtes politisches System zum Himmel. In der bisher größten
Manifestation ihres Ärgers versammelten sich am Wochenende Zehntausende aus
dem ganzen Land in der Innenstadt von Beirut, um im Namen der neuen „Ihr
stinkt“- Bewegung gegen ihre Politiker zu demonstrieren.
Seit über fünf Wochen wird im Libanon der Müll nicht mehr abgeholt. Überall
in Beirut türmen sich die Müllberge auf. In vielen anderen Gemeinden wird
er einfach wild in die Landschaft gekippt. Der Grund: Die bisherigen
Müllentsorgungsverträge mit privaten Firmen und einer bisher verwendeten
Mülldeponie sind abgelaufen. Parteien, schiitische, sunnitische,
christliche und drusische Politiker sowie korrupte Beamte konnten sich
monatelang nicht auf neue Verträge einigen.
Marwan Maalouf ist einer der Organisatoren der „Ihr stinkt“-Bewegung, die
nun seit über einer Woche auf die Straße geht. „Das Ganze hat ein Maß
erreicht, in dem nicht nur der Müll in unseren Städten, sondern auch unsere
Politiker stinken“, erklärt er den Namen der Bewegung. Für ihn geht es
schon längst nicht mehr nur darum, dass nun endlich der Müll eingesammelt
wird. „Der Müll hat den Libanesen aufgeweckt in der Wirklichkeit, in der er
lebt. Er weiß, dass es eine korrupte politische Klasse gibt, er kennt die
konfessionellen Verstrickungen libanesischer Politik. Er musste nur geweckt
werden“.
Die Organisatoren ziehen mit ihren Forderungen immer mehr an. Ursprünglich
ging es ihnen nur darum, dass endlich der Müll wieder eingesammelt wird.
Mittlerweile verlangen sie den Rücktritt des Umweltministers innerhalb von
72 Stunden. Außerdem soll der Innenminister zur Verantwortung gezogen
werden für einen brutalen Polizeieinsatz gegen die Demonstranten am
Wochenende zuvor.
Die Polizei hatte Tränengas und Wasserwerfer eingesetzt, als eine kleine
Gruppe versuchte, den mit Stacheldraht eingezäunten Regierungsbezirk zu
stürmen. Dabei gab es über 300 Verletzte auch unter der großen Mehrheit,
die friedlich protestiert hatte.
## Volksfeststimmung und Applaus
Bei der [1][Demonstration an diesem Wochenende] ist es im Wesentlichen
ruhig geblieben. Viele Familien waren gekommen, es herrschte
Volksfeststimmung. „Das ist nur der Anfang“, rief Rascha Halabi, eine
weitere Organisatorin der Bewegung, den Demonstranten unter tosendem
Applaus zu. Zuvor hatte sie die Forderungen verlesen, zu denen auch der
Aufruf zu Neuwahlen hinzugekommen ist.
Das Land hat seit 18 Monaten keinen Präsidenten, und das Parlament hat
zweimal Wahlen verschoben und seine Amtszeit verlängert. Das wirft den
Demonstranten der „Ihr stinkt“-Bewegung nicht nur die Frage der
Ineffektivität staatlicher Dienstleistungen, sondern auch der Legitimität
des Parlaments und der Regierung auf.
Eine halbe Autostunde von Beirut entfernt, in den Bergen mit einem
atemberaubenden Blick auf das Meer auf der einen und in ein grünes Bergtal
auf der anderen Seite, empfängt uns eine sichtlich frustrierte junge Frau.
Sie wolle uns das zeigen, sagt die Umweltjournalistin Nadine Mazloum. Es
ist die illegale Müllkippe der Gemeinde Romana. Die ist kein Einzelfall.
Alle paar Minuten durchbricht das Dröhnen eines Lkw die zirpenden Zikaden
und das Vogelgezwitscher. Die Lastwagen fahren vor, legen ihren
Rückwärtsgang ein, schieben sich bis an den Rand eines Steilhangs und
kippen ihre Müllladung in die Landschaft. Über dem Ganzen hängt ein
unerträglicher Gestank.
## Sorge um das Image
„Das wird alles demnächst, wenn es regnet, ins Grundwasser gelangen. Dann
werden es die Flüsse nach unten tragen und der Wind, der im Winter oft
stürmisch wird, wird das Plastik in der ganzen Landschaft verteilen“,
beschreibt Mazloum, was hier in Kürze passieren wird. Viele dieser
illegalen Müllkippen lägen direkt am Meer. „Es ist nur eine Frage der Zeit,
bis die Strömung den ersten Müll auch Richtung Europa treibt“, warnt sie.
„Alle reden von Politik, das ist aber auch eine ökologische Katastrophe“,
sagt die Umweltjournalistin. „Die Politiker sollen sich untereinander
streiten, so viel sie wollen, sie können von mir aus auch das Land unter
sich aufteilen, aber sie müssen dafür sorgen, dass dieses Müllproblem
gelöst wird, das hat Priorität“, appelliert Mazloum.
Als sie wieder losfährt, kommt ein Fahrzeug heruntergeprescht. Ein
wutentbrannter Dorfpolizist steigt aus. Wir sollen zusammenpacken. Er droht
gar, uns mit zur Wache zu nehmen. Was hinterlasse das für einen Eindruck im
Ausland, sagt er. Die Gemeinden wissen, dass sie ihren Abfall illegal in
die Landschaft kippen, aber wenn es der Staat selbst ist, der ein Vergehen
begeht, gibt es keine Handhabe.
Zurück in Beirut, erklärt Maha Yahia von der Carnegie-Stiftung, dass die
Krise inzwischen weit größer ist als das Müllproblem. „Es ist eine Krise
rund um das gesamte politische System des Landes. Die Leute haben einfach
genug von der politischen Korruption, die ein Maß erreicht hat, das nicht
mehr auszuhalten ist, weil sich diese auf ihr tägliches Leben auswirkt“,
sagt Yahia.
## Wunsch nach Veränderung
Die neue Bewegung beschreibt sie als „Embryo einer zivilen Bewegung“. Die
Demonstranten kämen von allen Seiten, viele erzählten, es sei das erste
Mal, dass sie an einem Protest teilnehmen. „Da sind Reiche und Arme,
Menschen aus allen Regionen und mit allen Konfessionen. Sie sind ein Symbol
der Unzufriedenheit im ganzen Land „, schildert sie.
Libanons politisches System war einst nach dem Bürgerkrieg in den 1990er
Jahren mit der Idee entstanden, alle Konfessionen politisch zu
repräsentieren. Wer Präsident, Premierminister oder Parlamentspräsident
ist, all das wird durch die Religionszugehörigkeit bestimmt – selbst
welcher Pförtner in welchem Ministerium angestellt wird. Das System, das
damals als Ausweg aus dem Bürgerkrieg erfunden wurde, legt heute den Staat
zunehmend lahm.
Die „Ihr stinkt“-Bewegung werfe die entscheidenden Fragen für den Libanon
auf, meint Yahia. „Wie können wir uns von einem konfessionellen System in
einen zivilen Staat umwandeln? Einen Staat, in dem es um Leistung geht, in
dem es echte politische Parteien gibt, die miteinander mit ihren
politischen Programmen konkurrieren und nicht wegen ihrer
Religionszugehörigkeit“, fragt sie. „Die Libanesen haben genug davon, dass
ihre politische Identität einzig durch ihre Religionszugehörigkeit bestimmt
werden soll“, fasst sie den Hintergrund der neuen Bewegung zusammen.
## Protestsong gegen alle
In [2][einem neuen Lied der Protestbewegung mit dem Titel „Wir meinen euch
alle“ singt eine Gruppe libanesischer Musiker] von ihrem Land, das von
korrupten Familienclans zerstört wird. Im letzten Vers heißt es: „Du
Minister, dein Onkel und deine Cousins, ihr seid die Säule des Regimes,
deswegen sind wir gegen euch alle, alle ohne Ausnahme.“ Es ist ein Lied,
das das Gefühl der neuen Protestbewegung wiedergibt.
Die Müllkrise ist ein Symbol. Das libanesische politische System, basierend
auf einem Proporz von Religionsgruppen in weiten Teilen des Landes, von
Familienclans kontrolliert, funktioniert nicht mehr und bringt den Staat
schleichend zum Scheitern. Die „Ihr stinkt“-Bewegung rebelliert dagegen.
„Wir versuchen unseren neuen Geist zu schützen und wollen uns nicht von
irgendeiner Partei oder Konfession instrumentalisieren lassen“, meint „Ihr
stinkt“-Mitorganisator Marwan Maalouf. Er sagt das mit großer Bestimmtheit,
so, als ob er nicht nur sein Gegenüber, sondern auch sich selbst noch davon
überzeugen muss.
Denn noch bleibt offen, ob er und seine Bewegung das schaffen oder ob sie
am Ende doch wieder vom libanesischen System aufgefressen werden.
30 Aug 2015
## LINKS
[1] /Muellkrise-im-Libanon/!5228091/
[2] https://youtu.be/u3StogLz_ZU
## AUTOREN
Karim El-Gawhary
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