# taz.de -- Verschleppter NS-Prozess: Zunichte ermittelt | |
> Erst die Nebenklage erzwang die Anklage gegen den SS-Mann Gerhard S. Doch | |
> ein Prozess wird wohl an der Demenz des Beschuldigten scheitern. | |
Bild: Die deutsch-italienische Politprominenz kam zum Jahrestag des Massakers i… | |
HAMBURG taz | In den 1960er-, 1970er Jahren wurden die Prozesse gegen | |
mutmaßliche NS-Verbrecher von der Justiz verschleppt: Das ist Konsens. Es | |
scheint fatal, aber lange zurückzuliegen – doch für manche Juristinnen und | |
Juristen ist es Gegenwart. Die Hamburger Anwältin Gabriele Heinecke wirft | |
eine solche Verschleppung der Stuttgarter Staatsanwaltschaft vor: Dort hat | |
das Verfahren gegen Gerhard S., den früheren Führer einer | |
SS-Panzergrenadierkompanie, nach ihren Worten „zehn Jahre herumgemodert“. | |
S., der 93-jährig in Hamburg lebt, soll am Massaker einer SS-Division an | |
den Bewohnern des italienisches Dorfs Sant‘ Anna die Stazzema beteiligt | |
gewesen sein, bei dem am 12. August 1944 560 Kinder, Frauen und alte Männer | |
ermordet wurden. S. hat sich nur einmal öffentlich dazu geäußert, als ein | |
Kamerateam ihn beim Schneeschippen vor seinem Haus aufstöberte: Ob er | |
Kompanieführer im 2. Bataillon der 16. SS-Panzergrenadierdivision gewesen | |
sei, fragen die Filmleute. „Das ist korrekt“, ruft S. Sein Bataillon habe | |
den Einsatz in Sant‘ Anna gemacht, rufen die Filmleute. „Ich weiß es nicht, | |
ich bin nicht dabei gewesen“, ruft S. „Ich habe mir keinerlei Vorwürfe zu | |
machen.“ Damit beendet er das Gespräch. | |
Die juristische Auseinandersetzung um die Schuld von Gerhard S. ist lang, | |
die Schauplätze wechseln, und wenn man sich damit beschäftigt, trifft man | |
immer wieder auf Situationen, in denen Wort gegen Wort steht, auf | |
mutmaßliche Sachzwänge und auf Beteuerungen, nach bestem Wissen und | |
Gewissen gehandelt zu haben, denen man glauben kann oder nicht. | |
Es liegt eine Unschärfe darüber, die sich nicht sofort mit der Vorstellung | |
juristischer Klarheit vereinbaren lässt. Und doch gibt es einige Leute, die | |
sich eine Meinung dazu gebildet haben, die eine Solidaritätskampagne namens | |
„AnStifter-Initiative Sant‘Anna“ gegründet haben und sich an jedem 12. d… | |
Monats zu einer Mahnwache vor dem Stuttgarter Justizministerium | |
versammelten. „Verantwortlich Oberstaatsanwalt Häußler a. D.“ steht auf d… | |
Zettel, den dort eine der Frauen hochgehalten hat, „verantwortlich | |
Generalstaatsanwalt Brauneisen“, „verantwortlich Justizminister Goll und | |
Stickelberger“ steht auf den anderen. | |
2002 hat der damalige Stuttgarter Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler mit den | |
Ermittlungen gegen Gerhard S. begonnen. Insgesamt sind es neun Männer, | |
deren mutmaßliche Verantwortung für das Massaker in Sant‘Anna untersucht | |
wird – 2012 stellt die Behörde die Ermittlungen endgültig ein, sie | |
begründet das auf 150 Seiten. Zu diesem Zeitpunkt sind einige der | |
ehemaligen SS-Angehörigen bereits verstorben, bei den anderen hält die | |
Behörde den Tatverdacht nicht für hinreichend. Entscheidend für das | |
Verfahren ist, dass die Staatsanwaltschaft nur dann Anklage erheben kann, | |
wenn sie von Mord ausgeht, denn Totschlag wäre zu diesem Zeitpunkt bereits | |
verjährt. | |
Für einen Mordvorwurf müsste unter anderem nachgewiesen sein, dass das | |
Massaker geplant war, und eben das hält Oberstaatsanwalt Häußler nicht für | |
sicher. Außerdem, so steht es in der Einstellungsverfügung von 2012, müsse | |
eine „individuelle Schuld“ nachgewiesen werden können. | |
2005 hatte ein italienisches Militärgericht Gerhard S. in Abwesenheit zu | |
lebenslanger Haft verurteilt. Auch in Italien dauerte es lange, bis | |
Prozesse gegen deutsche Kriegsverbrecher geführt wurden – die Gründe sind | |
umstritten. Wo einige schlicht Schlampigkeit und vergessene Aktenschränke | |
verantwortlich machen, sehen andere politisches Kalkül, etwa die Furcht, | |
dass in der Folge italienische Kriegsverbrecher ausgeliefert würden, aber | |
auch ein neu erwachendes Interesse an den deutsch-italienischen | |
Beziehungen. | |
Praktische Auswirkungen hatte das Verfahren in La Spezia gegen die | |
mutmaßlichen Verantwortlichen des Massakers von Sant‘Anna di Stazzema | |
ohnehin nicht: Deutschland liefert grundsätzlich seine Staatsbürger nicht | |
aus. Darüber hinaus war lange Tenor der deutschen Justiz, dass das deutsche | |
Recht andere, nämlich höhere Maßstäbe an eine Verurteilung anlege. | |
2012 erklärte der baden-württembergische Justizminister Rainer | |
Stickelberger (SPD), dass es keinen Raum für ihn gebe, die Justiz zu einer | |
Anklage anzuweisen, wie es Kritiker der Einstellung von ihm forderten. Zwar | |
sei das „juristische Ergebnis menschlich unbefriedigend“, doch habe die | |
Staatsanwaltschaft den Beschuldigten keine individuelle Schuld nachweisen | |
können. Stickelberger erwähnte sogar das italienische Urteil: Das Gericht | |
in La Spezia habe seine Verurteilung darauf gestützt, dass die | |
Beschuldigten eine übergeordnete Stellung in der Militärhierarchie | |
einnahmen und Einheiten angehörten, die am Massaker beteiligt waren – das | |
genüge nach deutschem Recht aber nicht. | |
Dieser Konsens der deutschen Justiz hat die Hamburger Anwältin Gabriele | |
Heinecke, die einen Überlebenden des Massakers, Enrico Pieri, vertritt, | |
nicht davon abgehalten, erst – erfolglos – Beschwerde gegen die Einstellung | |
einzulegen und dann ein Klageerzwingungsverfahren anzustrengen. Das ist ein | |
seltenes Verfahren und meist erfolglos – in diesem Fall gelang es. 2014 hob | |
das Oberlandesgericht Karlsruhe die Einstellung auf und verwies das | |
Verfahren an die Staatsanwaltschaft Hamburg. | |
Bemerkenswert ist die klare Kritik der Karlsruher Richter am Vorgehen der | |
Stuttgarter Staatsanwaltschaft: Die hätten der bloßen Möglichkeit, dass es | |
nicht von vornherein geplant gewesen sein könnte, die Zivilisten in | |
Sant‘Anna zu töten, zu großes Gewicht beigemessen. Also den Grundsatz „Im | |
Zweifel für den Angeklagten“ überstrapaziert. Gerhard S. sei an jenem Tag | |
kommandierender Offizier der in Sant‘Anna eingesetzten Kompanie gewesen, | |
die in einer geplanten Aktion die Bewohner von Sant‘Anna tötete, was | |
notwendigerweise die Aus- und Weitergabe von Befehlen einschloss – und S. | |
sei Teil dieser Befehlskette gewesen. | |
Die „AnStifter-Initative“ nahm das Urteil „mit großer Freude und | |
Genugtuung“ entgegen, die Stuttgarter Zeitung nannte es eine „Blamage“ f�… | |
Justizminister Stickelberger. In Hamburg stellte die Justiz wegen der | |
„besonderen Eilbedürftigkeit“ gleich zwei Staatsanwälte für die | |
Ermittlungen gegen S. ab. Fragt man in Stuttgart nach, warum dort nur ein | |
Mitarbeiter mit dem Fall betraut war, erklärt die Sprecherin der | |
Staatsanwaltschaft, dass nur einmal in ihrer sechsjährigen Dienstzeit mehr | |
als eine Person für einen Fall abgeordnet worden sei. Für welchen möchte | |
sie aber nicht sagen – man könne daraus falsche Schlussfolgerungen ziehen. | |
Doch die Hamburger Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren gegen S. im Mai | |
2015 ein – wegen Verhandlungsunfähigkeit. Ein Gutachter hat dem | |
Beschuldigten Demenz attestiert. Gabriele Heinecke legte dagegen Beschwerde | |
ein: Das Gutachten sei nur auf der Grundlage von Gesprächen mit S. und | |
seiner Tochter erstellt worden, auch Betreuungskräfte und Mitbewohner des | |
Mannes müssten befragt werden. | |
Am 10. August wies die Hamburger Generalstaatsanwaltschaft die Beschwerde | |
zurück: Es gebe keine berechtigten Zweifel an der Qualität des Gutachtens. | |
Es scheint so, als würde es auch gegen den letzten überlebenden | |
mutmaßlichen Täter von Sant‘Anna keinen Prozess in Deutschland geben. | |
21 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
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