| # taz.de -- Das Waldorf-Experiment: Brücken zwischen den Welten | |
| > An der Schule Fährstraße geht das erste Schuljahr zu Ende, in dem an | |
| > einer staatlichen Schule offiziell Elemente der Waldorf-Pädagogik zum | |
| > Einsatz kommen. | |
| Bild: In der Fährstraße malen die Kinder zu jedem Buchstaben ein Bild. | |
| HAMBURG taz | Bushra und Leon sind noch nicht ganz zufrieden. Die Rundung | |
| des Buchstaben P könnte noch besser sein. Die beiden Erstklässler knien auf | |
| dem Teppich in ihrem Klassenzimmer und justieren eine der beiden | |
| Wollschnüre, die sie grade gelegt haben. Die blaue Schnur liegt ganz gerade | |
| da, und die gelbe bedarf nur noch weniger Fingergriffe. Die Mitschüler, die | |
| auf kleinen Bänken im Kreis um den Teppich herum sitzen, schauen aufmerksam | |
| zu und geben Tipps. | |
| Sie nicken anerkennend, als es schließlich fertig ist, das Wollschnur-P. | |
| Nachdem die Schüler das P einmal über die Bänke hinweg umkreist und von | |
| oben bewundert haben, stellen sie ihre Bänke so hin, dass sie auf die Tafel | |
| gucken können. | |
| Auf Kissen an den Bänken kniend, verfolgen sie, wie Lehrerin Regine | |
| Göttlich ein Haus an die Tafel malt und daneben ein großes P, dessen Bauch | |
| im Dach des Hauses wohnt. Dann verteilt Kollegin Sabine Meyer kleine | |
| Tafeln, auf denen die Schüler das große und das kleine P mit Kreide | |
| nachmalen. | |
| ## Bundesweit einzigartig | |
| „Vom Großen ins Kleine“, umschreibt Meyer diese Art des Buchstabenlernens, | |
| bei dem erst nach mehreren Stadien in ein herkömmliches Materialienheft | |
| geschrieben wird. Meyer ist eine sogenannte Staatsschullehrerin, während | |
| ihre Kollegin Göttlich Waldorfpädagogin ist. Die beiden sind eines von drei | |
| Teams, die seit dem vergangenen Schuljahr den Schulversuch umsetzen, an der | |
| staatlichen Schule Fährstraße in Wilhelmsburg Elemente der Waldorfpädagogik | |
| zu integrieren. | |
| Zu diesem bundesweit einzigartigen Versuch sah sich die Schulbehörde | |
| gezwungen, als sie den Antrag des „Vereins für Interkulturelle | |
| Waldorfpädagogik“ auf Gründung einer Waldorf-Schule in Wilhelmsburg 2011 | |
| ablehnte, um damit einer sozialen Spaltung auf der Elbinsel | |
| entgegenzuwirken. | |
| Um aber den bildungsbewussten Eltern auch die staatliche Schule schmackhaft | |
| zu machen, und um der Schule Fährstraße im Reiherstiegviertel den lang | |
| anhaftenden Ruf einer unbeliebten Schule zu nehmen, wurde dem „Verein für | |
| Interkulturelle Waldorfpädagogik“ der Vorschlag zu der ungewöhnlichen | |
| Kooperation unterbreitet. | |
| ## Kritik von Waldorf-Gegnern und -anhängern | |
| Während Waldorf-Kritiker wie der Bremer Grundschullehrer André Sebastiani | |
| entsetzt darüber sind, dass durch eine solche Kooperation „esoterische und | |
| wissenschaftsfeindliche Ideen ins staatliche Schulwesen eingeführt“ würden, | |
| haben auch einige Waldorf-Anhänger große Bedenken. | |
| Vom „mephistophelischen Pakt“ spricht beispielsweise ein überzeugter | |
| „Waldörfler“ in Wilhelmsburg, der sein Kind niemals in die Schule | |
| Fährstraße schicken würde – weil Staat und Waldorf unvereinbar seien. Und | |
| der sich nicht weiter und auch nicht namentlich dazu äußern möchte, weil er | |
| die engagierten Waldorflehrer an der Schule Fährstraße nicht verletzen | |
| möchte. | |
| Christiane Leiste vom „Verein Interkulturelle Waldorf-Pädagogik“ weiß von | |
| diesem Unbehagen. Trotzdem würde die erfahrene Waldorfpädagogin die | |
| staatliche Schule nicht gegen ein „kleines, rosarotes Häuschen“ tauschen | |
| wollen, in dem sie den Unterricht zwar ohne staatliche Vorgaben machen | |
| könnte, in das aber ganz bestimmte Eltern ihre Kinder schicken würden. Sie | |
| freut sich sehr, an der Schule Fährstraße zusammen mit zurzeit sieben | |
| weiteren Waldorf-Kollegen zwischen den Welten Brücken bauen zu können. | |
| Sowohl was die Pädagogik-Welten angeht, wie zum Beispiel das bildhafte und | |
| das Laut getreue Lesenlernen. Als auch was die unterschiedlichen | |
| Bildungshintergründe der Kinder betrifft. „Wir haben hier Kinder, die bei | |
| der Einschulung schon lesen können und Kinder, die noch nie zuvor ein Buch | |
| gesehen haben“, sagt Leiste. Für die Kinder sei es wichtig, dass die | |
| Klassen sozial durchmischt sind. | |
| ## Waldorfschule mit sozialer Durchmischung | |
| Eine Waldorfschule im Viertel mit sozialer Durchmischung – das klang auch | |
| für Natalie Rutard wie das Ideal. Die seit wenigen Jahren in Wilhelmsburg | |
| lebende Mutter hatte ihren Sohn zuerst in der Waldorf-Kita, wo sie sehr | |
| positive Erfahrungen machte. | |
| Deswegen hat sie sich auch vom Bekanntwerden der Idee an in der | |
| Konzeptgruppe für die Integration der Waldorf-Elemente in die Schule | |
| Fährstraße engagiert und den ersten Info-Abend mitorganisiert, an dem | |
| „mindestens 100 Leute“ teilnahmen – sowohl Interessierte von außen als a… | |
| Eltern, deren Kinder schon auf die Schule gingen. Dafür musste Rutard eine | |
| resignative Stimmung in der Schule überwinden. „Das müsst Ihr gar nicht | |
| versuchen“, bekam sie zu hören, da würde „sowieso keiner“ kommen. | |
| Ebenso unverdrossen hat die 44-jährige Elternrätin den Wechsel des | |
| Mittagessens-Caterers erkämpft. Sie habe sich nicht „mundtot“ machen | |
| lassen, sagt sie. Hartnäckig führte sie eine Umfrage unter den Eltern | |
| durch. Es kam heraus, dass ihnen eben nicht egal war, dass ihre Kinder das | |
| Essen nicht mochten und dass der Nachtisch an einer Schule mit vielen | |
| muslimischen Kindern Gelatine enthielt. | |
| ## „Chaotisches Desaster“ | |
| Das unbefriedigende Essen war für Rosa van der Beek einer von vielen | |
| Gründen, warum sie ihren Sohn bereits nach dem ersten Halbjahr von der | |
| Schule nahm. „Ich empfand den Unterricht als ein einziges chaotisches | |
| Desaster, bei dem alles über Bord geworfen wurde, was vor Einführung des | |
| Versuches doch gut funktionierte“, sagt van der Beek. Sie erzählt von | |
| verunsicherten Staatsschullehrern, die ihr herkömmliches Handeln auf einmal | |
| in Frage stellten. | |
| Dass im ersten Jahr nicht alles optimal lief, unter anderem deswegen, weil | |
| die Schulleitung vakant war, darüber ist sich auch Jochen Grob im Klaren. | |
| Seit Mai im Amt, will der neue Schulleiter nun an einer „gemeinsamen | |
| Jahresplanung und an der Entwicklung eines gemeinsamen Unterrichtes“ | |
| arbeiten. Sein Credo lautet „Adaptive Didaktik“, bei der die „Kinder nicht | |
| ans System, sondern das System an die Kinder angepasst wird“, eine | |
| Sichtweise, die er auch in der Waldorf-Pädagogik vertreten sieht. | |
| Zum neuen Schuljahr ist nun auch die Didaktische Koordinationsstelle | |
| besetzt worden, die mehr Klarheit in das prozesshafte Ausprobieren der | |
| Vermischung der pädagogischen Welten bringen soll. Der Schulversuch ist auf | |
| acht Jahre angelegt. | |
| Mittlerweile haben sich auch andere Eltern von Rutards Engagement anstecken | |
| lassen. In diesem Jahr haben sie zum ersten Mal während des Ramadan ein | |
| gemeinsames Fastenbrechen organisiert. | |
| 27 Aug 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Darijana Hahn | |
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