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# taz.de -- Istanbul nach Suruç-Anschlag: „Auch ich werde nie wieder okay se…
> Mit dem Anschlag von Suruç kam der Krieg ins Land. Im weit entfernten
> Istanbul spüren das besonders kurdische Aktivisten und Linke.
Bild: „Ich werde nie mehr derselbe sein“, sagt Emre Genc, 29 Jahre alt. Er …
Istanbul taz | Der junge Mann spricht leise, legt immer wieder Pausen ein.
Er quält sich, aber er will reden. Außer mit seiner Familie und seinen
engsten Freunden hat er bislang mit niemandem über jenen schrecklichen Tag
in Suruç gesprochen. Gemeinsam mit zwei Freunden seiner Parteigruppe aus
dem Gazi-Viertel in Istanbul war er am 20. Juli zu einem großen Treffen in
die Stadt nahe der syrischen Grenze gefahren.
Einer der drei ist nun tot, einer liegt schwer verletzt im Krankenhaus. Und
Emre Genç sagt: „Auch ich werde nie wieder okay sein.“ Genç meint damit
nicht nur sein Ohr, das operiert werden musste. „Ich denke jeden Tag an
Suruç. Ich frage mich, warum meine Freunde tot sind und ich noch lebe.“
Rein äußerlich sind dem 29-Jährigen die Verletzungen nicht mehr anzusehen,
aber hier, im Büro seiner Partei im Istanbuler Stadtteil Gazi, wirkt er
ungewöhnlich ernst. Emre Genç gehört der Ezilenlerin Sosyalist Partisi
(Sozialistische Partei der Unterdrückten) an. Es war die Jugendorganisation
der ESP, die das Treffen in Suruç organisiert hatte, bei dem 32 junge
Frauen und Männer durch einen Terroranschlag des „Islamischen Staats“
(„IS“) den Tod fanden und mehr als hundert Personen verletzt wurden.
Das Attentat löste eine Welle von Gewalt aus: Zwei Tage nach dem
Terroranschlag ermordete die kurdische Untergrundorganisation PKK zwei
Polizeibeamte in Ceylanpınar – sie wirft der türkischen Regierung vor, mit
dem „IS“ zusammenzuarbeiten. Präsident Erdoğan erklärte daraufhin den
Friedensprozess mit der PKK für beendet und ordnete Luftangriffe auf die
PKK im Nordirak an.
„Immer wenn ich die Augen schließe“, erzählt Emre Genç, „laufen vor me…
inneren Auge die Bilder von Suruç ab.“ Er erinnert sich, wie sich die
Teilnehmer im Kulturzentrum trafen und dass im Garten eine Gruppe einen
kurdischen Tanz aufführen wollte, wiederum andere eine Erklärung zum
Wiederaufbau von Kobani vorlasen. Und dass ihm plötzlich ganz heiß wurde,
dass er durch die Luft geschleudert wurde, den Knall hörte. „Und dann war
es plötzlich ganz still.“
## „Suruç war anders“
Emre Genç blutete, aber er konnte aufstehen. Er ging ins Haus, wurde von
einigen Frauen angesprochen, verstand aber nichts. Er blutete an der Brust,
ein Ohr war verletzt, aber er war schon bald in der Lage mitzuhelfen, die
Verletzten zu versorgen. „Ich habe vorher schon einen Freund verloren, der
in Kobani gekämpft hat. Doch Suruç war anders. Ich sah, wie meine Freunde
starben, ich werde nie mehr derselbe sein wie vorher.“
Emre Genç lebt in Gazi, einem Stadtteil von Sultangazi, es gilt als
Hochburg der Linken. Die linksterroristische DHKP/C hat hier ihr
Rückzugsgebiet, viele – traditionell eher links ausgerichtete – Aleviten
leben hier und nicht zuletzt viele PKK-Anhänger. Aus keinem anderen
Stadtteil in Istanbul sind so viele junge Kurden im letzten Jahr in die
syrische Stadt Kobani gegangen, um sich dem Kampf gegen den „IS“
anzuschließen. Mehr als hundert Kämpfer seien es gewesen, erzählt Mevlüt
Aykoç, Vorsitzender der Kurdenpartei HDP in Gazi, nicht ohne Stolz bei
einem Glas Tee. „Man nennt unser Mahalle deshalb schon Klein-Kobani.“
Wenige Tage nach dem Attentat in Suruç wurden in Gazi drei junge
Sozialisten beerdigt, die durch die Bombe des „IS“ am 20. Juli ums Leben
gekommen waren. Tausende begleiteten den Trauerzug zum Friedhof, flankiert
von maskierten und bewaffneten kurdischen Militanten. Seitdem, so berichten
Ali Gülmez, 34, und Deniz Cokgül, 25, Parteifreunde von Emre, herrsche in
Gazi praktisch Ausnahmezustand. Fast jede Nacht käme es zu Schießereien
zwischen der Polizei und Mitgliedern der Jugendorganisation der PKK.
Die Mitglieder der ESP oder der HDP sind deswegen nervös und wechseln aus
Sorge vor Verhaftung ständig ihre Unterkünfte. Auch Emre Genç, obwohl noch
nicht genesen, hat Angst, von der Polizei einkassiert zu werden. Seine
beiden Freunde sind in Deutschland aufgewachsen und erst vor ein paar
Jahren in die Türkei gekommen. Auf die Frage, was sie denn nun in Istanbul
machen, antworten beide, sie arbeiteten hauptsächlich für die Partei. Sie
finden es richtig, dass der Beerdigungszug von bewaffneten PKKlern
begleitet wurde. „Sie haben uns geschützt. Schließlich werden wir hier
ständig von der Polizei angegriffen“.
## Sondereinsatztruppen in der Schule
Für die meisten Istanbuler ist das Gazi-Viertel No-go-Gebiet. Doch am Tag
ist von den gewalttätigen Auseinandersetzungen wenig zu sehen. Die Polizei
hat sich in ihrer Wache verbarrikadiert, in einer Schule sind jetzt,
während der Ferien, Sondereinsatztruppen der Polizei einquartiert worden.
Das Gazi ist ein armer Bezirk, graue Vorstadt, wo knapp 100.000 Menschen in
unansehnlichen Betonhäusern leben, die in den 80er Jahren anstelle der
selbst erbauten Hütten der anatolischen Einwanderer hochgezogen wurden. Das
Leben spielt sich entlang der Hauptstraße ab, Billigläden und kleine
Schnellrestaurants prägen das Bild.
Direkt in der Hauptstraße von Gazi steht eines der größten alevitischen
Gemeindehäuser Istanbuls, ein sogenanntes Çem-Evi, in dem die Aleviten ihre
Gottesdienste und religiösen Feiern abhalten.
Dem sunnitischen Mehrheitsislam in der Türkei sind die Aleviten suspekt.
Sie gelten ihnen nicht als echte Muslime, weswegen die Aleviten oft eher
säkular und links wählen. Seitdem die offen religiöse AKP regiert und sich
Präsident Erdoğan mehr und mehr wie ein sunnitischer Sultan aufführt,
herrscht Feindschaft zwischen den Aleviten und der AKP. „Die Aleviten“,
sagt HDP-Chef Mevlüt Aykoç, „solidarisieren sich hier mit den Kurden.“
## Belagerung des Çem-Evi
Anders als eine Moschee ist für die Polizei ein Çem-Evi nicht sakrosankt.
Einer der alevitischen Gemeindevorsteher zeigt Fotos, auf denen
zerschossene Fenster und Tränengasgranaten im Garten des Gemeindezentrums
zu sehen sind. Die Polizei hatte es während der Straßenschlachten nach dem
20. Juli regelrecht belagert, nachdem sie einen Trauermarsch für eine bei
den Razzien erschossene alevitische DHKP/C-Aktivistin verboten und sich die
Trauergemeinde ins Çem-Evi zurückgezogen hatte. Erdoğan persönlich, meint
Gemeindevorsteher Eyüp Güneysel, habe das Verbot des Trauermarschs
angeordnet.
Nicht nur den Aleviten, auch den Kurden gelten Erdoğan und sein
Staatsapparat als Hauptfeind. Kaum sind die ersten Schüsse nach drei Jahren
Waffenstillstand und Friedensgesprächen gefallen, ist alles wieder wie
früher.
Längst haben die Ermittlungen ergeben haben, dass das Attentat in Suruç von
einem bekannten türkischen „IS“–Sympathisanten verübt wurde. Die Polizei
und der Geheimdienst, davon sind die kurdischen Aktivisten überzeugt,
hätten den Attentäter gewähren lassen, obwohl sie wussten, was er vorhat.
## Neue Krawalle werden befürchtet
Emre Genç berichtet, dass sie sich schon bei der Einfahrt nach Suruç über
die Abwesenheit der Polizei gewundert hätten. „Vor der Einfahrt in die
Stadt wurde unser Bus oberflächlich kontrolliert. Normalerweise, wenn wir
uns treffen, wimmelt es von Polizei.“ Im Anschluss an das Attentat hätte
die Polizei die Ambulanz behindert und überlebende Aktivisten mit Tränengas
angegriffen. Emre, Deniz und Ali sind überzeugt, dass der Anschlag von
Suruç eine Provokation war, um den Friedensprozess mit der PKK zu beenden
und die kurdische HDP bei Neuwahlen wieder unter die Zehn-Prozent-Hürde zu
drücken. „Das steckt hinter Erdoğans Kriegsstrategie“, sagt Emre.
Dass die PKK durch Polizistenmorde ihren Teil zur Eskalation beiträgt,
wollen sie nicht wahrhaben. „Die PKK handelt in Selbstverteidigung. Sie
muss doch etwas tun, nachdem der Staat ihre Camps im Nordirak und im
Südosten der Türkei bombardiert“, sagen die drei einhellig.
Ihre sozialistische ESP ist zwar eine kleine eigenständige Partei, hat sich
aber dem Parteienbündnis angeschlossen, das unter dem Dach der kurdischen
HDP entstanden ist. Sie nehmen deshalb die Worte ihres Parteivorsitzenden
Selahattin Demirtas, der die PKK wie auch die staatlichen Sicherheitskräfte
dazu aufruft, die Kämpfe sofort zu beenden, schon ernst. Aber dass
Präsident Recip Tayyip Erdoğan darauf eingehen wird, glauben sie nicht.
Jedenfalls nicht vor der nächsten Wahl, eventuell schon im Herbst. „Erst
wenn die HDP bei Neuwahlen wieder 13 oder 14 Prozent bekommt, muss Erdoğan
verhandeln.“
Für dieses Wochenende erwarten Emre Genç, Ali Gülmüz, Deniz Cokgül und
Mevlüt Aykoç heftige Auseinandersetzungen in Gazi. „Der 15. August ist der
Jahrestag, an dem die PKK 1984 ihren bewaffneten Kampf gegen den türkischen
Staat aufgenommen hat. Aus diesem Grund wird die Polizei ihre Razzien
verstärken, und auch die PKK wird sicher etwas unternehmen“, zeigt sich
Mevlüt Aykoç überzeugt. Hat er Angst vor den kommenden Tagen? „Wer Angst
zulässt, lähmt sich selbst. Das können wir uns nicht leisten.“
15 Aug 2015
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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