# taz.de -- Oranienburger Straße in Berlin: Das tote Herz von Mitte | |
> Die Straße war eine wilde Mischung aus Verbotenem und Möglichem, Kultur | |
> und Ballermann, Prostitution und Promille. Davon ist wenig geblieben. | |
Bild: Sieht schick aus, doch die Touristen gehen inzwischen wo anders an: Blick… | |
Auf den ersten Blick wirkt in der Oranienburger Straße vieles vertraut. Die | |
Tische vor den Bars und Restaurants sind voll besetzt, Menschen schlendern | |
die Gehwege rauf und runter. Der Lärmpegel ist konstant hoch. Vor dem | |
ehemaligen Postfuhramt, das bis 2013 die Galerie C/O Berlin beherbergte und | |
bald der Sitz des Neuköllner Medizintechnik-Unternehmens Biotronik sein | |
wird, sammeln sich junge Leute zum allabendlichen Pubcrawl. Und doch | |
scheint es, als sei zwischen diesen Konstanten das Flair vergangener Tage | |
verloren gegangen. | |
In der seit 1998 bestehenden Bar Silberfisch kommt kurz Hektik auf: Der | |
Pubcrawl ist da. Bier wird im Sekundentakt über den Tresen gereicht, nach | |
ein paar Runden ist alles vorbei. Die Gruppe zieht weiter zum neuen Hotspot | |
der Stadt an der Revaler Straße, der „Silberfisch“ ist plötzlich wie | |
ausgestorben. Das Barpersonal beseitigt die Spuren und bereitet sich auf | |
den zweiten Stoß trinkfreudiger Besucher vor. Ja, Stammgäste gebe es auch | |
noch, erfährt man. Die kämen aber erst nach Mitternacht, wenn der Rummel | |
vorbei ist. Dazu das Personal der benachbarten Bars, zum | |
Feierabendabsacker. | |
Gegenüber im „Aufsturz“ ist es schwer, einen freien Platz zu ergattern. Das | |
Publikum ist jung und international, gesprochen wird meist Englisch. Das | |
Hotel Meininger direkt nebenan und das Generator Hostel spülen unablässig | |
neue Leute in diesen Abschnitt der Straße. Die Berliner scheinen sich | |
andere Ecken zum Ausgehen gesucht zu haben: Man trifft kaum noch welche. | |
## Die Frauen im Korsett sind noch da | |
Auf dem Gehsteig beginnen die Prostituierten auf Kundenfang zu gehen. Noch | |
immer verbindet man die Oranienburger mit Frauen in Korsetts und | |
Lackstiefeln, die an der Straße und in Hauseingängen auf Kundschaft warten. | |
Eine mit blonder Haarverlängerung steht an der Ecke Tucholskystraße. Kein | |
Name, keine Fotos – klar. Sie ist zuerst überrascht, Deutsch reden zu | |
müssen. „Ist schon sehr international geworden hier. Meine Kunden sind | |
überwiegend Touristen“, sagt sie. Und warum stehen gefühlt viel weniger | |
Frauen als früher hier? Jetzt will sie weiter, sorry, sie braucht noch | |
Kundschaft. Beim Gehen dreht sie sich noch einmal kurz um: „Hey, früher war | |
eben einfach mehr los.“ | |
Die Veränderung hat sich in aller Ruhe vollzogen. Vieles, was es vor fünf | |
Jahren hier gab, gibt es heute immer noch (C/O und Tacheles mal | |
ausgenommen), nur eben in einer anderen Dimension und mit anderen Facetten. | |
Die Frage ist: Kann man diesen seltsamen Mix aus Veränderung und Konstanz | |
in einen Rahmen pressen, um ihn erst „Atmosphäre“ zu nennen und dann mit | |
dem Gefühl vergangener Tage zu vergleichen? Die Mischung aus Verbotenem und | |
Möglichem, Kultur und Ballermann, Prostitution und Promille machte den | |
nicht kopierbaren Reiz der Oranienburger Straße aus, deren pulsierendes | |
Zentrum das Tacheles war. Man konnte zu dem Kunsthaus stehen, wie man | |
wollte – mit seinem Verschwinden ist etwas Elementares verloren gegangen. | |
Die Oranienburger ist immer noch eine belebte Straße mit Besuchern, Bars | |
und bezahltem Sex, aber ohne echtes Leben. | |
Um die Veränderung der Oranienburger Straße besser zu verstehen, empfiehlt | |
es sich, tagsüber „Tom’s Fritten“ aufzusuchen. Thomas Suchlich, genannt | |
Tom, übernahm 2008 den Imbiss-Stand gegenüber dem 2012 endgültig geräumten | |
Tacheles. In der Straße arbeitet er schon seit Anfang der 90er, er hat alle | |
Höhen und Tiefen mitgemacht. Sein Laden wurde dreimal im „zitty | |
Essen+Trinken Spezial“ ausgezeichnet, die Auszeichnungen hat er akkurat an | |
die Durchreiche geklebt. | |
## Doppelschichten, um über die Runden zu kommen | |
Seit die Eingänge des Tacheles vermauert sind, läuft es für Suchlich | |
schleppend. Ein paar alte Stammgäste, ein paar Touristen, einige kommen | |
durch Mundpropaganda. Mittlerweile schiebt er selbst von Montag bis | |
Donnerstag Doppelschichten, um sich über Wasser halten zu können. „Tagsüber | |
ist kaum noch was los. Das Tacheles war ein Touristenmagnet. Jetzt habe ich | |
vielleicht noch vier richtig gute Samstage im Jahr“, sagt Suchlich. | |
Tatsächlich gibt es tagsüber im westlichen Abschnitt der Oranienburger kaum | |
Laufkundschaft. Ein paar Touristen, die sich auf ihre alten Reiseführer | |
verlassen haben, verirren sich an den Stand, der Schauspieler Ben Becker | |
fährt auf dem Fahrrad vorbei. Tom Suchlich wartet schon wieder. „Den | |
anderen hier in der Nähe geht es nicht viel besser“, sagt er. „Nur, wer | |
kommuniziert das schon gerne nach außen?“ | |
Nicht weit von „Tom’s Fritten“ liegt die Kellerbar „X-Terrain“. Seit … | |
Jahren schon wird sie von Farschad Matin betrieben. Die Einrichtung würde | |
man heute wohl als „typisch Berlin“ bezeichnen. Nichts passt zusammen, aber | |
Charme hat es. Ein Ort, der alles sein kann und nichts sein will. Auch | |
Matin klagt über das Aus des Tacheles – jedenfalls aus geschäftlicher | |
Perspektive. „Über zweieinhalb Jahre liegt das Gelände jetzt schon brach, | |
und in manchen Monaten bekomme ich hier gerade so die Miete rein. Keine | |
Ahnung, wie lange ich das noch durchhalte“, sagt er resigniert. | |
Die Mieten in der Gegend kennen seit einigen Jahren nur noch eine Richtung: | |
nach oben. Wer sich auf einschlägigen Immobilienportalen umschaut, findet | |
für eine Zweiraumwohnung Nettokaltmieten bis zu 1.800 Euro – für 50 m². Bei | |
den Vermietern herrscht Goldgräberstimmung. Auch absurd hohe Gewerbemieten | |
haben viele Gewerbetreibende in letzter Zeit zum Aufgeben gezwungen. Bei | |
dem Tempo, in dem Häuser in der Oranienburger mittlerweile ihre Besitzer | |
wechseln, die mit neuen Mietverträgen ihre Rendite steigern wollen, ist für | |
Beständigkeit kein Platz. | |
Während Farschad Matin mit einer Zigarette in der Hand lässig an der Tür | |
seines Ladens steht, zieht eine große Schülergruppe vorbei. Weiße | |
Abi-Abschluss-Shirts, rheinischer Dialekt. „Guck mal!“, sagt einer, „das … | |
war mal das Tacheles, glaube ich.“ Konnte man der Oranienburger zu ihren | |
besten Tagen böswillig unterstellen, ein Menschenzoo zu sein, ist sie heute | |
eher ein Freiluftmuseum. Die Gruppe zieht ohne Zwischenstopp weiter zur | |
Friedrichstraße. Es gibt ja nichts zu sehen. Fast scheint es, als sei die | |
Straße außer der Synagoge aller Sehenswürdigkeiten beraubt worden. | |
Alle, die sich für Kunst und Kultur interessieren, bevölkern deshalb jetzt | |
die Nebenstraßen, wo in den vergangenen Jahren viele Galerien eröffnet | |
haben. An der August- Ecke Tucholskystraße befindet sich das „Keyzer Soze“, | |
ein schlicht eingerichtetes Restaurant mit deutscher Küche. Anabel Cramer | |
Rodriguez kellnert seit fünf Jahren hier. Sie kennt beide Seiten der | |
Medaille: „Früher bin ich mit meinen Freundinnen oft auf der Oranienburger | |
ausgegangen. Aber irgendwann ist das ganze Flair verloren gegangen.“ Ist | |
die Oranienburger langweilig geworden? „Das wäre jetzt zu hart – sie wird | |
halt einfach erwachsen“, sagt Cramer Rodriguez und liefert damit die | |
vielleicht beste Erklärung für ein komplexes Problem mit vielen Akteuren | |
und Puzzlesteinen. | |
Berlins Mitte wird schon lange aufpoliert, die Prozesse der Veränderung und | |
der Verdrängung sind weit vorangeschritten. Den neuen Investoren kann die | |
vage Erinnerung an ein Gefühl vergangener Tage reichlich egal sein – man | |
kann dieses Gefühl ja nicht monetär bemessen. Sie werden die Gewinner | |
dieser Entwicklung sein. Die, die eisern die Stellung halten, suchen nach | |
ihrer Rolle, aber vielen ist klar, dass sie nicht mehr viel zu gewinnen | |
haben. | |
## Niemand tut etwas, damit es anders bleibt | |
Die Geschichte der Oranienburger Straße nach der Wende ist die Geschichte | |
von Ideen, die sich irgendwann überlebt hatten, von einer Subkultur, die | |
sich stets an anderen Orten neu erfinden muss, von Touristen, die dieser | |
Entwicklung hinterherziehen, von Investoren, die plötzlich ihre | |
Renditechancen erkennen, und von einer Stadt, die permanent damit wirbt | |
„anders“ zu sein, aber nichts dafür tut, diese Andersartigkeit zu erhalten. | |
All das geschieht an vielen Stellen in der Stadt – aber die Oranienburger | |
Straße ist vielleicht das beste Sinnbild für diesen Prozess. Was von ihr | |
bleiben wird, ist eine Straße ohne Ecken und Kanten. Denen, die sie | |
zwischen Mauerfall und den Nullerjahren erlebt haben, wird ihr spezieller | |
Charme in Erinnerung bleiben. | |
Berlin ist im Laufe der letzten Jahre eine andere Stadt geworden, hat Stück | |
für Stück ihre Unfertigkeit und ihre Freiräume verloren. Auch Berlin wird | |
erwachsen. Wer das nicht glauben will, sollte mal über die Oranienburger | |
schlendern. | |
25 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Christian Schlodder | |
## TAGS | |
Bezirk Mitte | |
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Kunst | |
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