| # taz.de -- Atomkrieg aus Versehen: Schlaf weiter. Es ist nur Krieg. | |
| > Fast wäre es 1980 zum Atomkrieg gekommen. Aber nicht, weil jemand den | |
| > roten Knopf gedrückt hat. Sondern wegen Fehlern des Frühwarnsystems. | |
| Bild: Doomtown, Nevada: Eines von zwei Häusern, die nach einem Atomtest 1955 s… | |
| Eine Studie des maßgeblichen US-Konstruktionsbüros für Atomwaffen, des | |
| Sandia National Laboratories, spricht von mindestens 1.200 Atomwaffen, die | |
| von 1950 bis 1968 in „signifikante“ Unfälle verstrickt waren: | |
| Flugzeugabstürze, Bomben, die aus Versehen ausgeklinkt wurden, schwer zu | |
| löschende Brände vor allem auf B-52-Bombern mit riesigen Wasserstoffbomben | |
| in den Abwurfschächten. | |
| Auch Schlamperei, Drogenmissbrauch oder Kompetenzgerangel führten zu | |
| absurden Zwischenfällen. Noch am 29. August 2007 wurden sechs | |
| Marschflugkörper mit Atombomben auf dem Luftwaffenstützpunkt Minot in North | |
| Dakota irrtümlich in einen B-52-Bomber mit dem schönen Namen Doom 99 | |
| geladen. Niemand bemerkte den Verlust. Es dauerte eineinhalb Tage, bis eine | |
| Wartungsmannschaft das halbe Dutzend Sprengköpfe in der Maschine bemerkte, | |
| auf einem 2.500 Kilometer entfernten Flugfeld. | |
| Am ausführlichsten schreibt Schlosser in dem Buch „Command an Control“ üb… | |
| das Raketensilo 374-7 bei Little Rock in Arkansas. Dort explodierte eine 31 | |
| Meter hohe Titan-II-Rakete am 19. September 1980, weil einem 19-jährigen | |
| Soldaten bei der Wartung ein schweres Werkzeug nach unten fiel und eine | |
| Treibstoffleitung leckschlug. | |
| Stundenlang mühte sich die Mannschaft des Silos mit Heldenmut, aber mit | |
| unzureichenden Gerätschaften und wirren Befehlsketten, der sich anbahnenden | |
| Katastrophe Herr zu werden – vergebens. Der explosive Raketentreibstoff | |
| flog schließlich in die Luft. Der Kopf der Rakete trug die Wasserstoffbombe | |
| W53 mit einer Sprengkraft von 9 Millionen Tonnen TNT – das ist dreimal mehr | |
| als alle Bomben des Zweiten Weltkriegs zusammen; die stärkste Bombe, die | |
| die USA je auf Raketen montiert haben. | |
| ## Army vertuscht Panne | |
| Der Sprengkopf wurde zwar 300 Meter hoch in die Luft geschleudert, landete | |
| mit zerfetzter Schutzhülle, jedoch ohne zu explodieren, neben einer Straße. | |
| Hinterher vertuschte die Army, was noch zu vertuschen war. Die Bombe hätte | |
| je nach Windrichtung weite Teile Arkansas verseucht. Gouverneur war damals | |
| Bill Clinton nebst Frau Hillary. | |
| Der folgende Auszug bezieht sich auf ein anderes Feld von Zwischenfällen: | |
| die schon bei ihrer Installation veralteten Computer des Frühwarnsystems | |
| Norad (nordamerikanisches Luft- und Weltraum-Verteidigungskommando). Weil | |
| selbst die am weitesten fliegenden Interkontinentalraketen nur etwa eine | |
| halbe Stunde unterwegs waren vom Start bis zur Explosion, war auch die | |
| Reaktionszeit entsprechend kurz. | |
| Ein Computeralarm, der sich nicht sofort als falsch herausstellte, wurde | |
| auf sogenannten Thread Assessment Conferences erwogen, zu Deutsch: | |
| Bedrohungs-Einstufungs-Konferenzen. Ein- bis zweimal die Woche mussten sie | |
| einberufen werden, schreibt Schlosser. Die Verantwortung der Generäle war | |
| enorm, denn der US-Atomkriegsplan „Single Integrated Operational Plan“ | |
| (SIOP) galt bis 1991 und erlaubte nur eine Option: einen sofortigen | |
| Gegenschlag mit vielen tausend Sprengköpfen. | |
| Was wie eine übertriebene Szene aus dem Film „Dr. Seltsam oder wie ich | |
| lernte, die Bombe zu lieben“ wirkt, war bitterer Ernst, der jeden frisch | |
| gewählten Präsidenten wieder aufs Neue erschütterte, wenn er in die Pläne | |
| eingeweiht wurde. Erst unter George Bush senior, nach dem Ende der | |
| Sowjetunion, wurde der SIOP ausrangiert. Und das, obwohl es mehrere | |
| haarsträubende Ereignisse wie das Folgende gab. | |
| ## Überraschungsangriff nicht auszuschließen | |
| „In der Nacht zum 3. Juni 1980 wurde der Sicherheitsberater des | |
| Präsidenten, Zbigniew Brzezinski, um halb drei Uhr morgens durch einen | |
| Anruf des Stabsmitglieds General William E. Odom geweckt. Sowjetische | |
| U-Boote hätten 220 Raketen auf die Vereinigten Staaten abgeschossen, sagte | |
| Odom. Diesmal war ein Überraschungsangriff nicht auszuschließen. | |
| Die Sowjetunion war kurz zuvor in Afghanistan einmarschiert und hatte damit | |
| alle Klischees von ihrer Brutalität bestätigt, die die | |
| Anti-Abrüstungs-Lobbygruppe Committee on the Present Danger verbreitete. | |
| Die Vereinigten Staaten riefen zum Boykott der Olympischen Spiele in Moskau | |
| auf, und die Beziehungen der beiden Supermächte erreichten den tiefsten | |
| Punkt seit der Kubakrise. | |
| Brzezinski forderte Odom auf, ihn erneut anzurufen, sobald eine Bestätigung | |
| des Angriffs und der vorgesehenen Ziele vorliege. Die Vereinigten Staaten | |
| würden sofort zurückschlagen müssen, und bei genauen Informationen über den | |
| Angriff wollte Brzezinski den Präsidenten unterrichten. | |
| Bei seinem nächsten Anruf erklärte Odom, 2.200 Raketen seien auf dem Weg in | |
| die Vereinigten Staaten, fast alle Langstreckenraketen des sowjetischen | |
| Arsenals. Brzezinski war schon im Begriff, das Weiße Haus zu informieren, | |
| als Odom erneut anrief. Die Norad-Computer meldeten zwar den Start der | |
| sowjetischen Raketen, aber die Radaranlagen und Satelliten des | |
| Frühwarnsystems zeigten keine Raketen an. Ein Fehlalarm. Brzezinski hatte | |
| seine Frau weiterschlafen lassen. Die Explosion der Sprengköpfe über | |
| Washington sollte sie nicht bewusst erleben müssen. | |
| ## Fehlerhafter Computerchip | |
| Bomberbesatzungen waren zu ihren Flugzeugen gerannt und hatten die | |
| Triebwerke gestartet. Den Raketenmannschaften war befohlen worden, die | |
| Safes zu öffnen. Die fliegende Zentrale des pazifischen Kommandos hatte | |
| abgehoben. Und dann beendeten die Dienst habenden Offiziere in der | |
| nationalen militärischen Kommandozentrale des Pentagon die Threat | |
| Assessment Conference, überzeugt davon, dass keine Raketen abgeschossen | |
| worden waren. Einmal mehr widersprachen sich die Norad-Computer und die | |
| Sensoren des Frühwarnsystems. | |
| Das Problem musste bei einem der Computer liegen, doch man fand es nicht. | |
| Ein paar Tage später alarmierten die Computer das | |
| Strategic-Air-Command-Hauptquartier und das Pentagon ein drittes Mal. | |
| Sirenen heulten, Bomberbesatzungen liefen zu ihren Flugzeugen – doch erneut | |
| meldete eine Threat Assessment Conference einen Fehlalarm. | |
| Diesmal fanden die Techniker den Fehler: Ein defekter Computerchip war | |
| dafür verantwortlich. Norad verfügte über Standleitungen, die die Computer | |
| im Tiefbunker Cheyenne Mountain, Colorado, mit denen im SAC-Hauptquartier | |
| und im Pentagon verbanden. Um die Funktionsfähigkeit der Leitungen zu | |
| gewährleisten, sendete Norad Tag und Nacht Testmeldungen mit der Warnung | |
| vor einem Raketenangriff. An der Stelle für die Raketenzahl standen Nullen. | |
| Der defekte Computerchip hatte hier wahllos die Ziffer 2 eingesetzt, als | |
| wären 2 Raketen, 220 Raketen oder 2.200 Raketen abgeschossen worden. | |
| Der Chip wurde ersetzt. Er kostete 46 Cent. Und man verfasste eine neue | |
| Testmeldung. Diesmal ohne Raketen. | |
| Auszüge aus: Eric Schlosser: „Command and Control – Die Atomwaffenarsenale | |
| der USA und die Illusion der Sicherheit“. C. H. Beck Verlag 2013, 600 S., | |
| 25 € Hardcover, 20 € E-Book. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des | |
| Verlags | |
| 5 Aug 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Reiner Metzger | |
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