# taz.de -- Viggo Mortensen über Menschlichkeit: „Ein kleiner Funke hätte g… | |
> Der Schauspieler analysiert das menschliche Wesen, berichtet über | |
> Religionsstreitereien und schildert die Reaktionen auf eine Bordellszene. | |
Bild: Wer ist hier der Gast und wer der Gastgeber? Mohamed (Reda Kateb) und Dar… | |
Ein warmer Freitagnachmittag in München, auf der Dachterrasse eines Hotels | |
unweit des Karlsplatzes. Viggo Mortensen sitzt unter einem Sonnenschirm; | |
seit zehn Uhr morgens empfängt er Journalisten, um mit ihnen über „Den | |
Menschen so fern“ zu sprechen. In dem Film des französischen Regisseurs | |
David Oelhoeffen hat er die Hauptrolle inne, und er hat sich als | |
Koproduzent engagiert, ähnlich wie schon bei Lisandro Alonsos Film „Jauja“ | |
(2014). Wenn Mortensen auf eine Frage antwortet, holt er weit aus, er | |
spricht gern über das Wesen der Menschen, und selten macht er eine Pause. | |
Immer wieder verteidigt er Albert Camus, den Autor der literarischen | |
Vorlage, gegen Kritiker. | |
taz: Herr Mortensen, hat es Sie gereizt, an einem Film mitzuwirken, der vor | |
dem Hintergrund eines Kolonialregimes und des Widerstands dagegen | |
angesiedelt ist? | |
Viggo Mortensen: Das ist etwas, was überall auf der Welt, in jeder Stadt, | |
in jedem Land ständig geschieht und geschehen wird, solange es Menschen | |
gibt. Von dem Augenblick an, in dem es mehr als eine Gruppe gab, gab es | |
einen Machtkampf zwischen den Gruppen. Wenn Leute in München, Berlin, New | |
York oder Tokio in ein bestimmtes Viertel gehen, sind sie dort mehr oder | |
weniger willkommen. Menschen neigen dazu, Gruppen zu bilden. Um ihre | |
Zurechnungsfähigkeit zu bewahren, stecken sie Individuen in Schubladen. | |
Menschen suchen nach einfachen Antworten für Probleme, ob das nun der | |
Kolonialismus in Nordafrika oder die Probleme zwischen Vierteln in der | |
Stadt, in der man lebt, sind. Wie sind die Nachbarn? Sie sind so und so. | |
Aber vielleicht sind sie noch mal ganz anders. Was für Filme macht David | |
Cronenberg? Seine Filme sind so und so. | |
Dabei macht er doch sehr unterschiedliche Filme. | |
Die beiden Figuren in „Den Menschen so fern“ sind ja in derselben Gegend | |
zur Welt gekommen, vielleicht 10, 20 Kilometer voneinander entfernt, und | |
trotzdem wirken sie auf den ersten Blick sehr unterschiedlich. Und obwohl | |
sie die Gegend gut kennen und dort aufgewachsen sind, haben sie Vorurteile, | |
bewusst oder unbewusst. Daru … | |
… die Figur, die Sie spielen … | |
… mag zwar gereist sein, er ist gebildet, nachdenklich, und er ähnelt | |
Camus, insofern er nach dem richtigen Weg sucht und ehrlich genug ist, um | |
zu erkennen, wann er Fehler macht. Er hat keine Scheu, seine Freunde vor | |
den Kopf zu stoßen, wenn es sein muss. So ähnlich wie Camus, als er nach | |
dem Zweiten Weltkrieg über die Gefahren des Totalitarismus sprach, was ihm | |
Teile der französischen Linken bis heute nicht verziehen haben, die | |
gedankenlosen Erben von Sartre und Beauvoir. | |
Darus Familie kam aus Andalusien nach Algerien. Liegt es deshalb nahe, dass | |
er zwischen die Fronten gerät? | |
Vielleicht. Aber das macht es nicht leichter. Oft ist es ja so, dass Leute, | |
die nicht ganz dazu passen, einen riesige Anstrengung auf sich nehmen, um | |
sich einzufügen. Mein Vater zum Beispiel, ein Einwanderer aus Dänemark, der | |
in den 50er Jahren in die USA kam, hätte gar kein konservativerer | |
Amerikaner sein können. Der Titel der Kurzerzählung ist im Französischen | |
übrigens mehrdeutig, „L’hôte“ heißt Gast und Gastgeber zugleich. Am An… | |
der Geschichte scheint es klar zu sein, dass Mohamed der Gast ist, am Ende | |
ist es vielleicht andersherum. | |
Die Erzählung von Camus ist sehr knapp, der Film fügt vieles hinzu … | |
… damit man die Figuren besser kennenlernt … | |
Waren Sie daran beteiligt? Oder lag das allein bei David Oelhoffen, dem | |
Regisseur und Drehbuchautor? | |
99,99 Prozent stammen von ihm. Ich mochte seine Adaption sehr, deswegen | |
wollte ich mich an dem Projekt beteiligen. Er hat die Sachen nicht einfach | |
erfunden, sondern andere Arbeiten Camus‘ hinzugezogen, die journalistischen | |
Texte aus den 30er Jahren, die von der Ungerechtigkeit handeln, in der die | |
Araber und die Berber in Algerien lebten. Auch die Briefe und das Drama | |
„Die Gerechten“. Deswegen denke ich, dass die Erweiterungen und die | |
Freiheiten, die er sich gönnt, gerechtfertigt sind und dazu dienen, die | |
Geschichte detaillierter zu machen, was Sprache, Akzente, Gegenstände, | |
Landschaft, Gesten und Verhaltensweisen anbelangt. Je spezifischer etwas | |
ist, umso größer sind die Chancen, dass es universell lesbar ist. | |
Das gilt ja auch für den Zeitrahmen. Wie ist es für Sie, eine Figur zu | |
spielen, die in den 50er Jahren lebte? Das ist ja nicht nur eine Frage der | |
Kostümierung … | |
… sondern auch der Haltung, ja. Ich lese und schaue mir Filme an, setze | |
mich mit der Mode, der Sprache, dem Slang auseinander, und dann gibt es ja | |
noch lebende Relikte jener Zeit, meinen Vater und andere. Und indem ich | |
nach Algerien gereist bin und dort ein wenig Zeit verbracht habe, indem ich | |
mir dokumentarisches Footage aus jener Zeit angesehen habe, habe ich ein | |
Gefühl dafür bekommen, wie Menschen sprachen und sich bewegten. Ich mag | |
diese Zeit der Vorbereitung. Auch das, was man nicht sieht, worauf nur | |
angespielt wird, besonders bei Figuren wie diesen, die so zurückhaltend | |
sind und nicht über ihre Gefühle sprechen. | |
Der Film ist manchmal auch sehr diskret. Zum Beispiel in der Szene, in der | |
Daru der von Angela Molina gespielten Bordellbesitzerin schüchtern auf | |
Spanisch sagt, er kenne sie … | |
… und sie sagt: „Ich kann mich nicht erinnern, das muss lange her sein, | |
mindestens 30 Jahre. | |
Da steckt ja eine Andeutung drin. | |
Vermutlich hat ihn sein Vater dorthin gebracht, und sie war viel jünger. | |
Das war der Brauch damals, wie hätte er sonst vor der Ehe etwas über | |
Sexualität lernen können? Aber es bleibt unausgesprochen, es ist auch nicht | |
so wichtig. | |
Aber es kommt rüber … | |
Das ist interessant. Die Szene ist ja auf vielen Ebenen fruchtbar. Für | |
Mohameds Figur, die ins Leben zurückkehrt. Und wegen der Zartheit – nach | |
all dem, was in den letzten 24 Stunden passiert ist: die französischen | |
Soldaten, der Reiter, den Daru erschossen hat, das tote Pferd, die Gewalt, | |
der sie um ein Haar entkommen sind. Und auch für Daru, der ja zehn Jahre | |
lang dachte, er entscheide sich für das Leben, während er in Wirklichkeit | |
vor dem Lebend davonlief. In Schweden übrigens wurde der Film in fast allen | |
Rezensionen verdammt, weil es eine Szene in einem Bordell gibt. | |
Wegen der schwedischen Antiprostitutionsgesetze? | |
Das ist eine extrem feministische Perspektive. | |
Ich begreife mich als Feministin. Aber ich würde niemals Prostitution | |
verbieten wollen. | |
Das tue ich auch! Aber in Schweden gibt es eine Art Druck, dass man sich | |
äußern muss, sowohl Journalisten als auch Journalistinnen, denn wenn man es | |
nicht tut, bekommt man zu hören: „Warum haben Sie nicht darauf | |
hingewiesen?“ Das ist eine verdrehte Form politischer Korrektheit. | |
Vor allem, weil es um die Vergangenheit geht. Man kann ja schlecht aufgrund | |
heutiger Wertmaßstäbe damalige Umgangsformen verbieten und verbannen. | |
Das Unglückliche daran ist, dass man, wenn man sofort sagt: „Oje, das ist | |
ein Bordell“, nicht mehr sieht, was zwischen den Figuren vor sich geht. Die | |
Schönheit, Mohameds Blick in dem Moment, in dem er von der Bar weggeht, | |
oder mich und die junge Frau, den menschlichen Kontakt, die Zärtlichkeit. | |
Wie viel Zeit haben Sie eigentlich in Algerien verbracht? | |
Vor dem Dreh hatte ich Zeit, zum Glück, also habe ich in Madrid mit | |
jemandem an meinen Arabisch gearbeitet und auch an meinem Französisch, denn | |
das musste besser werden, als es war, und es durfte keine Spur von | |
Quebecois enthalten, ich habe Französisch in Kanada gelernt. Und Algerien … | |
ich war eine Woche dort und habe mit jedem gesprochen, mit dem ich konnte. | |
Ich habe Orte besucht, von denen ich wusste, dass Camus dort gewesen ist. | |
Wie hilft Ihnen das für Ihr Spiel? | |
Zum Beispiel hält Daru diese kurze Rede darüber, wie er in der Basilika | |
Unserer Lieben Frau von Afrika geheiratet habe, und dabei beschreibt er die | |
Aussicht, die man von dort über die Bucht hat. Ich wollte in der Kirche | |
gewesen sein, mit dem Priester gesprochen, sie mit eigenen Augen gesehen | |
haben. Und es ist etwas vorgefallen. Innen gab es einen in die Wand | |
eingravierten Satz: „Gott, wache über alle Christen und Muslime.“ Den | |
schaute ich mir an, dann ging ich in ein Geschäft für Devotionalien, da war | |
ein Mann, der sprach eine Mischung aus Französisch und Arabisch, ich konnte | |
von dem, was er sagte, genug verstehen. Er war Muslim, und er beleidigte | |
den Inhaber des Laden und den Priester: „Wir werden euch loswerden!“ Die | |
anderen waren geduldig, aber es war unangenehm, ein kleiner Funke hätte | |
gereicht, verstehen Sie, was ich meine? Der Mann kam in die Kirche mit | |
seinen Ideen, und was immer auch die anderen sagten, wie menschlich sie | |
sich auch verhielten … | |
… war er von seinem Plan nicht abzubringen? | |
Ich hätte ihm gern gesagt: „Schauen Sie sich mal diesen eingravierten Satz | |
an. Was denken Sie darüber? Stört es Sie, dass Gott über Christen und | |
Muslime wacht?“ Mir sind beide Religionen egal, institutionalisierte | |
Religionen sind die gefährlichsten Märchen, die es gibt. Sie richten viel | |
Schaden an, vor allem unter Leuten, die ungebildet und ungeschützt sind. | |
Wie ist die Situation ausgegangen? | |
Er ist schließlich gegangen und hat dabei jede Menge Sachen gesagt. Ich | |
dachte, er würde gleich mit Kreuzen um sich schmeißen. Hinterher habe ich | |
den Priester gefragt, ob das oft vorkommt. „Von Zeit zu Zeit“, sagte der. | |
Ich fragte: „Wie gehen Sie damit um? Haben Sie Sicherheitspersonal?“ – | |
„Draußen steht ein Mann“ – „Was, wenn eine ganze Truppe von Männern | |
reinstürmt?“ Er antwortete: „Dann geschieht es. Es wird uns nicht daran | |
hindern zu tun, was wir tun. Wir versuchen ja nicht, irgendjemandem zu | |
irgendetwas zu zwingen.“ Welchen Schaden richtet dieser Ort schon an? | |
Keinen. Ideologische Konzepte richten Schaden an, auf beiden Seiten. | |
Auch bei dem, der intolerant ist, er fügt sich selber Schaden zu. Hat die | |
ideologische Verhärtung in Ihren Augen im Lauf der letzten 20 Jahre | |
zugenommen? | |
Ja. Und das, obwohl wir heute im Netz mehr Möglichkeiten haben, etwas | |
herauszufinden und miteinander zu kommunizieren. Aber viele nutzen das | |
Netz, um bereits bestehende Ideen zu bekräftigen, Teil einer Masse zu | |
werden und Vorurteile zu verbreiten. | |
9 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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