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# taz.de -- Die Wahrheit: Kreuzberger Gruseltour
> Wenn Freunde einen im berüchtigten Kiez besuchen, dann muss man ihnen die
> weltberühmten „gefährlichen Ecken“ zeigen .
Neulich holten mich die Schatten meiner Vergangenheit in Form von längst
verstorben geglaubten Schulfreunden ein, die zum ersten Mal die Hauptstadt
besuchten, und eine Tour durch „das gefährliche Kreuzberg“ wünschten. Daf…
bin ich natürlich die Richtige, schließlich ist „Danger“ mein zweiter
Vorname.
Ich traf mich mit dem Pärchen am Kottbusser Tor, vorsichtshalber an der
Ecke, wo früher immer der Spritzenbus stand. Als ich ankam, hielten die
beiden schon ihre Gesichter in die Sonne, während um sie herum Händler
frisches Gemüse feilboten. Touristen lächelten vielsprachig über
Stadtplänen, und zwei kleine Zopfmädchen hatten begonnen, einen
Hickelkasten auf den Asphalt zu malen. Nirgends waren Drogenwracks in
Achtziger-Jahre-Klamotten zu sehen, die darum stritten, wer als nächstes zu
Rossmann geht, von Gangs ebenfalls keine Spur.
Etwas enttäuscht nahm ich die Chance wahr, als einer der Verkäufer meiner
Freundin ein Stück Granatapfel „zu probiere!!“ anbot, um ihr zuzuraunen:
„Da könnten natürlich Drogen drin sein!“, doch sie schmatzte selig. Sie
kaufte eine Plastiktüte voll. „So ein netter Mann!“, fanden beide und
ließen sich von meinen Hinweisen auf potenzielle Mitgliedschaften in
Radikalinski-Moscheen nicht beirren.
Aber ich war ja noch nicht am Ende meiner Weisheit. Unterwegs wies ich das
Pärchen auf die Graffiti hin. „Wie hübsch!“, sagte meine Freundin. „Bei…
ist alles grau …“ Wütend schlenderte ich weiter, an sonnigen Cafés vorbei,
in denen sich junge Menschen zur Begrüßung küssten, und anscheinend genau
hinter dem BSR-Müllfahrzeug her, denn, wie ich meinen Gästen entschuldigend
versicherte, „normalerweise ist es hier wirklich viel dreckiger.“
Mein Freund fand in einem Videoshop für einen Euro eine kaum abgegrabbelte
Version von „Die Möwe Jonathan“, nebenan kaufte meine Freundin ein
mineralölfreies Bienenwachs-Lipgloss. Dann kam mir ein Einfall: „Steckt
euch auf jeden Fall etwas in die Ohren“, warnte ich, und schickte sie in
den Punk-Plattenladen, in dem tätowierte Altpunks den ganzen Tag vor
Flaschenbier hocken und mit 105 Dezibel Dead Kennedys oder Gore hören.
Ich setzte mich auf die ehemalige Touri-Bespuckbank gegenüber und wartete.
15 Linienbusse später kamen sie wieder heraus, beide mit Plattentüten, und
verabschiedeten sich per Umarmung vom Besitzer. „Der hatte sämtliche
TwoTone-Singles!“, kiekste meine Freundin, „Aber wo sind denn jetzt diese
ganzen schlimmen Ecken!?“
Zitternd vor verletzter Ehre startete ich einen letzten Versuch. „Richtig
schlimm ist es in den Hinterhöfen“, verriet ich. „Soziale Brennpunkte,
dreckig, verwahrlost.“ Meine Freunde waren begeistert. Hinterm nächsten Tor
saß eine Erzieherin inmitten von lockigen Kindern mit glänzenden Augen in
einer Sandkiste und las „Pippi Langstrumpf“ vor, während im Hintergrund
Hippies Fahrräder reparierten.
Resigniert holte ich drei Becher fairen Kaffee aus dem
„Eigeninitiative-Café“ und beschloss, bei einer ähnlichen Anfrage künftig
lieber den gentrifizierten Prenzlauer Berg zu zeigen. Das ist um Längen
gruseliger.
2 Jul 2015
## AUTOREN
Jenni Zylka
## TAGS
Kreuzberg
Kolumbien
Verbrechen
Hedonismus
Beerdigung
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