# taz.de -- Flüchtlinge: Wer sich wehrt, muss hungern | |
> Die syrische Familie Kasem hat Widersprich gegen ihre geplante | |
> „Umverteilung“ eingelegt. Trotz des laufenden Verfahrens bekommt sie | |
> keinen Cent Geld zum Leben. | |
Bild: Familie Kasem will nicht „umverteilt“ werden. | |
BREMEN taz | Eigentlich könnte Familie Kasem endlich ein wenig zur Ruhe | |
kommen. Nach zweijähriger Flucht lebt das syrische Ehepaar Usama und Nesrin | |
Kasem mit seinen drei Kindern seit anderthalb Monaten bei Nesrins Bruder in | |
Hemelingen. Bloß: Auch hier dürfen sie nicht bleiben, Bremen will die | |
Familie „umverteilen“. Dagegen hat ihr Anwalt Rechtsmittel eingelegt - | |
dennoch verweigert die Sozialbehörde ihr jegliche Hilfe zum | |
Lebensunterhalt. | |
Dabei haben Kasems alles richtig gemacht: Sie haben sich bei der | |
Ausländerbehörde gemeldet, Anträge auf Sozialhilfe und Krankenversicherung | |
gestellt und sich zur Klärung ihres Aufenthaltsstatus einen Rechtsanwalt | |
genommen. Eine Krankenkassenenkarte bekamen sie - und eine Einmalzahlung in | |
Höhe von 290 Euro. Mehr gibts nicht, teilte ihnen das Sozialamt Hemelingen | |
mit. | |
„Nesrin ist in Syrien verschleppt und vier Tage lang gefangen gehalten | |
worden“, erzählt Zavin Alou, die mit ihrem Mann Abdulrahman die Familie bei | |
sich aufgenommen hat. Auch die Alous haben drei Kinder. Zehn Personen | |
teilen sich nun ihre kleine Drei-Zimmer-Wohnung. Abdulrahman ist | |
Paketzusteller, Zavin Hausfrau - das Geld ist knapp: „Ja, unser Konto ist | |
mittlerweile im Minus, aber Geld ist hier Nebensache“, sagt Zavin. | |
Sie erzählt, wie Nesrin aus den Händen ihrer Peiniger freigekauft wurde, | |
wie sie mit der Familie über die Grenze in die Türkei floh und von da aus | |
nach Bulgarien: „Dort mussten wir mit 25 Menschen in einem 15 Quadratmeter | |
großen Zimmer schlafen“, übersetzt Zavin ihre Schwägerin. Deren | |
mittlerweile fünfjähriger Sohn Najah erkrankte im bulgarischen | |
Flüchtlingsheim an einer so schweren Bronchitis, dass er ins Krankenhaus | |
musste. „Da bekam er aber keine Medikamente.“ Zu teuer, hieß es. | |
Der heute siebenjährige Sohn Mohammed wurde von einem bulgarischen | |
Polizisten misshandelt, „und überall schliefen Flüchtlinge draußen auf | |
Bänken und in Zelten“. Wer in Bulgarien eine Aufenthaltserlaubnis erhält, | |
bekommt kein Geld, keine Wohnung, keinen Job. „Nesrin war durch das Erlebte | |
in Syrien bereits schwer traumatisiert - Bulgarien hat ihr den Rest | |
gegeben“, sagt Zavin. Die Schwägerin sei in psychologischer Behandlung, | |
habe Angst vor Männern, vor Polizisten, vor Menschenmengen. | |
Die Familie floh weiter nach Dänemark: „Dort entschied das Gericht, dass | |
wir nach Bulgarien zurückgehen sollten“, sagt Nesrin, „aber niemals wieder | |
gehen wir nach Bulgarien.“ Also ging es weiter, nach Deutschland, zum | |
Bruder. Und obwohl Kasems dort wohnen können, wurden sie aufgefordert, in | |
die Zentrale Aufnahmestelle (Zast) zu ziehen. „Aber unser Rechtsanwalt hat | |
uns davon abgeraten.“ | |
Mit gutem Grund, erklärt Anwalt Jan Sürig: „Die Familie soll nach | |
Schleswig-Holstein umverteilt werden. In der Zast würde sie umgehend dazu | |
aufgefordert, in die Erstaufnahmestelle nach Neumünster zu fahren - die | |
Menschen bekommen meist schon direkt die Fahrkarte in die Hand gedrückt.“ | |
Sürig hat Rechtsmittel gegen den Umverteilungs-Beschluss eingelegt. „Aber | |
für die Dauer des Verfahrens verweigert das Sozialamt den Kasems | |
finanzielle Unterstützung.“ | |
Die könnte schließlich, so das Amt, statt beim Bruder in der Zast leben, wo | |
es „Sachleistungen“ in Form von Vollverpflegung gebe. „Erpressung“ nennt | |
Sürig das. Das Sozialamt behauptet ihm gegenüber, es könne die Familie erst | |
dann unterstützen, wenn es dafür eine Anweisung der senatorischen Behörde | |
bekäme - und die sei nicht erfolgt. | |
Im Bescheid über die klägliche Einmalzahlung von 290 Euro, die die Familie | |
bekommen hat, heißt es: „Die örtliche Zuständigkeit in Bremen ist ab dem | |
21.05. (…) nicht mehr in Bremen gegeben. Bitte beantragen Sie am | |
Zuweisungsort entsprechend weitere Leistungen.“ Trotz des noch gar nicht | |
entschiedenen Verfahrens ist Familie Kasem für das Sozialamt also bereits | |
„umverteilt“. „Aus humanitären Gründen“ wird ihr noch bis Ende Juni | |
Krankenhilfe gewährt. | |
Zavin Alou lacht bitter: „Humanitäre Gründe? Meine Schwägerin hat versucht, | |
sich umzubringen. Sie wird fast verrückt vor Angst davor, dass sie von | |
ihrem Bruder weg muss. Wenn diese Familie umverteilt wird, wird Nesrin | |
keine Stunde mehr am Leben sein.“ | |
7 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Simone Schnase | |
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