# taz.de -- Kunst und Krise in Griechenland: Nächster Akt | |
> Ein Theaterprojekt in Athen stemmt sich gegen die Krise. „Es geht darum, | |
> seine Stimme zu erheben“, sagt die Organisatorin. | |
Bild: Probenraum in der alten Ölmühle in Elefsina: Hier hält die „Schule f… | |
ATHEN taz | Durch die morschen Fensterrahmen der Ölmühle fällt Sonnenlicht, | |
zeichnet blendend weiße Rauten auf den Betonboden des halb verfallenen | |
Gebäudes. Jeder Schritt hallt. Zwanzig Theaterschülerinnen und | |
Theaterschüler stehen in Paaren zusammen, fixieren sich stumm. An den | |
Wangen rinnt Schweiß herab, nässt Tank Tops und glänzt auf nackten | |
Oberarmen. | |
Auf ein Kommando des Trainers stemmen sich die Körper gegeneinander, einer | |
der Partner legt die Hände an den Kopf des Gegenübers, presst gegen Stirn, | |
Kiefer, Schultern. Die Probanden winden sich unter dem Druck, weichen ihm | |
aus, halten dagegen. | |
Im Halbschatten am Rand der Halle sitzt Marina Mantzouki, eine zierliche | |
Frau mit glattem, alterslosem Gesicht. Sie beobachtet die Studenten, die | |
sich mit angespannten Gesichtern über den Betonboden schieben. „Die Technik | |
heißt Fighting Monkey, eine Mischung aus Bewegung und Kampfkunst“, sagt | |
sie, die Stimme zum Flüstern gesenkt. „Es geht darum, ursprüngliche | |
Bewegungen wiederzufinden, Vertrauen in den eigenen Körper.“ | |
Marina widmet sich wieder dem kleinen, schwarzen Laptop auf ihren Knien. | |
Eigentlich wollte sie den Workshop auch belegen, aber dann hat sie der | |
Alltag eingeholt: ein Auftrag, der erste seit Langem. Sie soll einige | |
Folgen einer spanischen TV-Soap ins Griechische übersetzen. Die Bezahlung | |
steht noch nicht fest, aber es soll schnell gehen. Also legt sie los und | |
flucht, wenn ihr ein Wort fehlt. | |
Eigentlich ist sie hier, um genau diesen Alltag für eine Zeit vergessen zu | |
machen – „die Krise, ja, die Krise“, hatte sie gesagt und gelacht. Es ist | |
der Spätsommer vor der griechischen Parlamentswahl, Alexis Tsipras ist noch | |
der Herausforderer, Hoffnungsträger für die einen und unmöglich für die | |
anderen. Und irgendwie auch ganz egal, wie Marina sagt – wie viele Griechen | |
glaubt sie nicht, dass sich durch einen politischen Wechsel viel an ihrer | |
Situation ändern würde. Beim Theater gehe es ihr um etwas anderes: | |
Zumindest für zehn Tage im Jahr sollen Schauspieler in Griechenland wieder | |
Schauspieler sein, Tänzer wieder Tänzer, Menschen wieder Menschen – und | |
nicht Arbeitslose, mittellose Selbstständige oder Rentner ohne Rente. | |
## Theaterleute mit internationalem Ruf | |
In diesen zehn Tagen erweckt die Theatergruppe „Baumstraße“ die alte | |
Ölmühle im Athener Vorort Elefsina zum Leben. Etwa 50 Theaterschüler proben | |
Stücke und führen sie auf. Die „Schule für antikes Drama“ hat | |
internationales Renommee, vor allem wegen der Performer und Tänzer aus ganz | |
Europa, die Workshops geben und Vorträge halten. | |
Marina ist Organisatorin, Ansprechpartnerin, Büro der „Baumstraße“; ihr | |
Bruder Vassilis Mantzoukis und ihre Schwägerin Martha Frintzilla haben die | |
Theatergruppe gegründet und ihr den deutschen Namen gegeben, der auf ein | |
Gemälde von Paul Klee zurückgeht. Vassilis ist Komponist und regelmäßig bei | |
den großen griechischen Theaterfestivals vertreten, Martha ist | |
Schauspielerin am Nationaltheater und gibt Seminare. Kulturelle Elite, wenn | |
man so will, zumindest gehören sie zu den Auserwählten in Griechenland, die | |
noch von ihrer künstlerischen Profession leben können. | |
Ein Luxus ist das nicht: In Elefsina schlafen sie im Matratzenlager auf dem | |
Fußboden des alten Verwaltungstraktes oder auf Isomatten. Öffentliche | |
Förderung erhalten sie nicht, die Kommune stellt kostenfrei das Gelände zur | |
Verfügung – das war’s. „Wir haben schon überlegt, ob wir im nächsten J… | |
Bauarbeiterhelme austeilen sollen“, sagt Marina, nur halb im Scherz – Teile | |
der alten Ölmühle sind einsturzgefährdet. | |
Sie klappt den Laptop zu und schlendert nach draußen. Ihre Sandalen | |
knirschen auf dem Schotter des weiten Vorplatzes. Eine Bruchsteinmauer | |
fasst das Gelände ein, von der Straße ragen Pinienwipfel in den Hof. | |
Elefsina war seit der Antike ein kulturelles Zentrum, wie Marina erklärt. | |
Der große Tragödiendichter Aischylos ist hier geboren. | |
Heute ist Elefsina ein Vorort, gelegen am kleinen Nebenarm einer | |
Hauptverkehrsader, die sich an der Stadt vorbeizieht. Rechter Hand flache | |
Lagerhallen mit gesprungenen Scheiben, links die Promenade. | |
Kinderspielplatz, ein paar Meter Sandstrand. Frachtschiffe kreuzen die | |
Bucht, eine verirrte Jacht zwischen den Hügeln am Horizont, wohl auf dem | |
Weg zum Hafen von Piräus. In der Ferne steigt Rauch auf, aus dem Schlot | |
einer Raffinerie schießen Feuerstöße. Natürlich gebe es noch Industrie in | |
Griechenland, Wohlstand, Reichtum sogar, sagt Marina. „Nur sind die meisten | |
Menschen von dieser Sphäre ausgeschlossen.“ | |
## „Wir stecken alle in einem Haufen Scheiße“ | |
Das Seminar ist beendet, die Theaterschüler haben sich vor dem | |
Küchenbungalow niedergelassen. Paul, ein schlaksiger Student aus New | |
Jersey, liegt in der Sonne, Joko sitzt auf einem Plastikstuhl und unterhält | |
sich mit zwei Freundinnen aus Athen. Er ist 24, studiert Kunst und Theater; | |
schlank, braun gebrannt, mit schwarzer Latzhose über dem T-Shirt. Am Träger | |
der Hose krallt sich eine kleine Schwalbe fest. „Das ist Homer“, sagt er | |
und grinst. „Wir haben ihn beim Aufbau gefunden und aufgepäppelt.“ Joko war | |
im Vorjahr Schüler, dieses Mal ist er als Helfer dabei. „Das hier ist | |
Arbeit“, sagt er. „Waschen, spülen, aufräumen. Arbeit an Stücken, an | |
Texten. Und Arbeit an mir selbst.“ | |
In Athen teilt sich Joko ein kleines WG-Zimmer mit einem anderen Studenten. | |
„Wir sind alle in der gleichen Situation“, sagt er, räuspert sich und setzt | |
den kleinen Vogel auf dem Tischchen ab. „Wir stecken in einem Haufen | |
Scheiße. Du findest keine Arbeit, hast nicht das Geld, um die Miete zu | |
zahlen, den Strom. Es reicht vorne und hinten nicht. Du musst Wege finden, | |
das mal kurz zur Seite zu schieben. Dein Leben erträglich zu machen.“ Das | |
hat ihn zur Baumstraße und schließlich zur Theaterschule nach Elefsina | |
geführt. | |
In der Küche der alten Ölmühle wird das Mittagessen aufgewärmt, in | |
Backformen dampft Pasticio – Nudelauflauf –, es duftet nach Minze. Marinas | |
Mutter betreibt ein kleines Catering-Unternehmen, sie bringt jeden Tag das | |
Essen vorbei. Die Studenten nennen sie „Frau Happy“, weil sie so viel | |
lacht. „Das Ganze hier funktioniert nur als Familienunternehmen“, sagt | |
Marina. | |
## Sie zahlen noch drauf | |
Plötzlich wird es laut auf dem Vorplatz: Martha ist angekommen. Umarmungen, | |
Küsse auf die Wange. Ein tiefes, fast frivoles Lachen, dann steht Martha | |
Frintzilla in der Küchentür, hochgewachsen, im weiten Kleid, die lockigen | |
Haare zu einem Zopf gebunden. Sie ist 42 Jahre alt, klassisch-schönes | |
Gesicht mit großen Augen und hohen Wangen; eine Figur, die eher | |
Lebensfreude als Askese ausstrahlt. Im Nationaltheater spielt sie die | |
Aphrodite, seit 2011 bespielt sie außerdem mit ihrem Lebenspartner den | |
Probe- und Aufführungsraum der „Baumstraße“ in Athen und organisiert die | |
Sommerschule in Elefsina. | |
„Ein gutes Geschäft ist das nicht“, sagt Martha und lacht ihr tiefes | |
Lachen. Sie hat sich in einen der Plastikstühle sinken lassen, Zigarette in | |
der Hand. Bei viele Aktionen müssen sie selbst etwas zuschießen, manchmal | |
findet sich eine Stiftung oder ein Mäzen. Die Kurse kosten zwischen 20 und | |
50 Euro. Wer nicht bezahlen kann, hilft stattdessen – putzt, baut Bühnen | |
auf oder fasst in der Küche mit an. „Ohne die Gemeinschaft würde es nicht | |
gehen“, sagt Martha. | |
Im ersten Jahr seien sie 50 Leute gewesen, Studenten, Lehrer, Helfer. Im | |
nächsten 100. Jetzt seien sie schon 500, im losen Verbund. „Die Menschen | |
suchen nach Nähe. Um zu sehen: Ich bin nicht allein in diesem Albtraum.“ | |
Mindestens drei Viertel der Studenten seien arbeitslos. In Athen gibt es | |
wieder regelrechte Armenspeisungen, zu denen Tausende für eine warme | |
Mahlzeit pilgern. Auch in Elefsina, Marthas Geburtsort, geben sie wieder | |
Essen aus, zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, wie sie sagt. | |
## Machen was einem gefällt | |
Aber wie kann das Theater ein Ausweg sein aus dieser Misere? Diesmal kein | |
Lachen, sondern kurze Stille, ein Zug an der Zigarette. „Im antiken | |
griechischen Drama geht es um Menschen und um die Macht über Menschen“, | |
sagt Martha. „Es geht darum, seine Stimme zu erheben.“ Sie sehe doch die | |
Müdigkeit vieler Menschen. „Theater kann ihnen helfen, ihre Stimme | |
wiederzufinden. Oder zumindest ein Licht sein in dieser Dunkelheit.“ | |
Auch Martha glaubt nicht an einen schnellen Wiederaufstieg, den oft | |
beschworenen Ausweg aus der Krise. „Wir müssen uns andere Wege suchen“, | |
sagt sie. Zusammenhalt sei das eine, Gemeinschaft, getragen von fast | |
familiären Beziehungen, von Tauschgeschäften und offenen Räumen. Von | |
Freiwilligen, die ihre Kraft und Zeit in ein gemeinsames Projekt | |
investieren. „Wenn du mit keinem Beruf Geld verdienen kannst, weil du | |
keinen Job findest, dann kannst du zumindest machen, was dir gefällt“, sagt | |
Martha mit der Ratio der Stunde null. | |
Ist dieser Neustart durch die Krise vielleicht auch eine Chance für die | |
griechische Gesellschaft, für die Kunst? Da winkt sie ab und lacht. „Ich | |
glaube, wenn sich die Wirtschaft etwas erholt hat, dann werden sich die | |
meisten hier wieder schlecht bezahlte Jobs suchen und der Kunst den Rücken | |
kehren.“ | |
## Einige unbeschwerte Abende | |
Am letzten Abend der Theatertage glänzt das Meer in der Abendsonne. Es ist | |
ruhig, kein Frachter in Sicht. Am Wasser entlang schlängelt sich eine | |
kleine Menschenschar in Richtung der alten Ölmühle, der Stuhlreihen und | |
Bühnen, die die Theatergruppe dort aufgestellt hat. Es ist ihr Geschenk an | |
Elefsina: einige unbeschwerte Abende. | |
Als alle längst sitzen, verlässt auch Marina das kleine Verwaltungsgebäude, | |
in dem sie an ihrer Übersetzung gearbeitet hat. Sie stellt sich in die | |
letzte Reihe, zieht an einer selbst gedrehten Zigarette. Ihr Freund ist | |
gekommen, um später beim Abbau zu helfen. Sie lehnt sich bei ihm an, lacht. | |
Auf der Bühne jammert ein spindeldürrer Schauspieler im Kostüm der | |
Aphrodite über die Schuldenlast der Griechen. Schallendes Gelächter, | |
minutenlanges Lachen und Johlen. | |
Ein halbes Jahr später hat Griechenland eine neue Regierung. Der Streit | |
über Schulden und Hilfsgelder mit der Troika, die jetzt Brüsseler Gruppe | |
heißt, ist wieder in vollem Gang. Joko wohnt noch immer in seiner | |
Studentenbude. Marina wartet weiter auf Aufträge – und plant die | |
Theaterkurse für dieses Jahr. Wieder zehn Tage Elefsina. Noch hat hier | |
keiner der Kunst den Rücken gekehrt. | |
4 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Urs Spindler | |
Arne Schulz | |
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Alexis Tsipras | |
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