# taz.de -- Interview Prävention von Missbrauch: „Wir waren fassungslos“ | |
> Seit 1987 arbeitet Strohhalm e.V. zur Prävention von sexuellem | |
> Missbrauch. Seitdem hat sich viel getan, sagt Mitgründerin Dagmar | |
> Riedel-Breidenstein. | |
Bild: Mit Tischtennis lockten Pädosexuelle die Jungen an. (Symbolfoto) | |
taz: Frau Riedel-Breidenstein, letzte Woche stellten die Berliner Grünen | |
einen [1][Bericht über pädosexuelle Umtriebe in ihren Reihen] vor. Nach der | |
Lektüre konnte man den Eindruck gewinnen, ganz Berlin-Kreuzberg sei von | |
einem Netz pädosexueller Täter durchwirkt gewesen. Sie waren damals | |
Mitglied der Kreuzberger Frauengruppe der Alternativen Liste (AL). Wie | |
haben Sie die Zustände wahrgenommen? | |
Dagmar Riedel-Breidenstein: Sexuelle Gewalt an Mädchen war Mitte der | |
Achtziger ein großes Thema in der Frauenszene. Wir Kreuzberger Frauen | |
wollten wissen, ob es so etwas auch in unserem Bezirk gibt und was wir | |
dagegen politisch tun können. Also nahmen wir im Winter 1985 Kontakt zu | |
Frauke H. auf, die als Sozialarbeiterin beim Gesundheitsamt am Kottbusser | |
Tor arbeitete. Bei dem, was sie uns erzählte, blieb uns der Spekulatius im | |
Halse stecken. Wir waren fassungslos. | |
Was schockierte Sie so? | |
Frauke bekam Kinder, die auffällig waren, vorgeführt. Bei Mädchen fand der | |
Missbrauch fast ausschließlich im privaten Bereich, in der Familie statt. | |
Aber sie erfuhr eben auch von groß angelegten Ermittlungen der Polizei und | |
Prozessen: Die Beamten suchten in den Grundschulen nach Kindern, die in | |
einem konfiszierten Pornoalbum abgebildet waren. Es handelte sich bei den | |
Opfern ausschließlich um Jungs, die den pädosexuellen Tätern in | |
Jugendfreizeiteinrichtungen, auf Spielplätzen und in sogenannten offenen | |
Wohnungen begegnet waren. Die Schulen waren damit völlig überfordert. Und | |
wir zunächst auch. | |
Ihnen war die ganze Thematik neu? | |
Absolut. Wir kannten Pädosexualität (damals noch Pädophilie genannt) nur | |
aus theoretischen Diskussionen. Dass es in Berlin, in der Cuvrystraße, eine | |
Meldeadresse gab, wo sich Pädosexuelle einquartierten, dass es Spielplätze | |
gab, die als Kontaktbörsen fungierten, von dieser organisierten Seite | |
wussten wir nichts. Der Falckensteinkeller etwa, von dem Frauke erzählte: | |
Ein Souterrain mit Tischtennisplatte und Cola-Automat, in dem sich Jungen | |
zwischen neun und 13 Jahren nach der Schule aufhalten konnten. Sie mussten | |
eben nur einen Preis dafür zahlen. Dass es diesen Laden gab, hatte man ja | |
sehen können. Als wir davon erfuhren, liefen bereits die Ermittlungen. Und | |
es stellte sich heraus, dass es AL-Mitglieder waren, die zu den Beteibern | |
gehörten und dort auch Jungen missbrauchten. Wir fanden das grässlich und | |
wollten, dass es aufhört. | |
Suchten Sie die Auseinandersetzung in der Partei? | |
Wir machten im Kreisverband Kreuzberg auf die Situation aufmerksam. Und | |
gewannen auch die Zeitschrift Kreuzberger Stachel dafür, das Thema | |
aufzugreifen, es erschienen dort mehrere Artikel. In grünen Kreuzberger | |
Kreisen schlug das hohe Wellen. | |
Und über Kreuzberg hinaus? | |
Im größeren Parteizusammenhang interessierte das niemanden genauer, es gab | |
andere Themen, die wichtiger waren. „Einvernehmliche Sexualität“ zwischen | |
Kindern und Erwachsenen galt außerdem als neu entdeckter wichtiger Aspekt | |
der sexuellen Selbstbestimmung. Als Opfer galten die Männer, die dafür | |
bestraft wurden. | |
Es gab in der AL doch aber ganze Gremien, die der Diskussion um Sexualität | |
großen Raum einräumten. Im Schwulenbereich gaben Pädo-Aktivisten den Ton | |
an. Haben Sie dort die Auseinandersetzung gesucht? | |
Wir haben es versucht, aber vergebens. Diejenigen, die auch Täter waren, | |
also Fred Karst und Dieter Ullmann, waren schwer greifbar: Sie waren ja | |
andauernd im Knast und machten sich auch sonst rar im Parteileben. Wir | |
haben viel diskutiert, beschlossen aber bald, uns nicht nur auf | |
theoretische Diskussionen über „Einvernehmlichkeit“ einzulassen, sondern | |
das Thema politisch und praktisch anzugehen. Und uns auf die Opfer zu | |
konzentrieren. | |
Wie kamen Sie an das Wissen über die Kinder heran? | |
Unsere klare Positionierung verschaffte uns Kontakte, zum Beispiel gehörten | |
wir auch bald zum Kreuzberger Bündnis gegen sexuelle Gewalt. Es handelte | |
sich um Kinder, die viel Zeit auf der Straße verbrachten, aus dem unteren | |
Arbeitermilieu. Kreuzberg war ein sozialer Brennpunkt. Wir suchten den | |
Kontakt zu Lehrerinnen und Sozialarbeiterinnen an den Schulen. Und zu den | |
kostenlosen pädagogischen Betreuungseinrichtungen für den Nachmittag, etwa | |
im Bethanien am Berliner Mariannenplatz. Die kannten die Situation sehr | |
gut. Wir informierten uns gegenseitig über die Ermittlungen der Polizei, | |
über Täterstrukturen und Vorgehensweisen, boten Elternabende an. | |
Mit den Kindern redeten Sie nicht? | |
Damals war so etwas wie Präventionsarbeit mit Kindern noch undenkbar – | |
solche Themen besprach man mit Erwachsenen. Man kann sich aus heutiger | |
Sicht kaum vorstellen, wie stümperhaft damals der Umgang mit sexuellem | |
Missbrauch war. Polizei und Staatsanwaltschaft ermittelten wenig sensibel | |
und ohne großen Eifer. Kam es doch zu einer Verhandlung, dann befragte man | |
einen Täter wie Fred Karst allen Ernstes, ob er denn glaube, dass die | |
Jungen Schaden dadurch davon getragen hätten. Der sagte natürlich | |
treuherzig, nein, das sei alles einvernehmlich und zärtlich gewesen. Man | |
nahm den Missbrauch von Jungen nicht richtig ernst. Besonders unter den | |
Schwulen wurde er häufig als sexuelle Initiation verbrämt, negative Folgen | |
wurden weggedrückt. Wie wir heute wissen, war das überhaupt typisch für | |
männliche Missbrauchsbetroffene. | |
Wie kam es dazu, dass Sie aus der AL-Frauenarbeit heraus den | |
Präventionsverein Strohhalm gründeten? | |
1987 nahm ich mit ein paar anderen Frauen in Bielefeld an einem Seminar | |
teil: Ein Pilotprojekt aus den USA stellte seine Arbeit mit Kindern vor: | |
Workshops zur Stärkung des Selbstbewusstseins und zur Abwehr von Gewalt. | |
Wir waren begeistert und wussten: Das braucht Kreuzberg auch! Die ersten | |
Workshops machten wir für unsere eigenen Kinder und deren Freunde zu Hause. | |
An Professionalisierung haben wir nicht gedacht. Aber die Resonanz war so | |
positiv, dass wir das schließlich doch anstrebten, um den Bedarf zu decken. | |
Wir gaben den Kindern in Rollenspielen Worte für ihren Körper und für ihre | |
Rechte, informierten über gefährliche Situationen und Abwehrmöglichkeiten, | |
schärften ihr Bewusstsein für Grenzverletzungen. Das alles erfuhren auch | |
die Erwachsenen, die zu den Kindergruppen gehörten. Nach den Workshops | |
boten wir vertrauliche Einzelsprechstunden an. In vielen Gruppen gab es | |
betroffene Kinder, die wir zu Beratungsstellen vermittelten – oder gleich | |
mit Unterstützung der Schulen oder Eltern Jugendamt oder die Polizei | |
einschalteten. | |
Sie nahmen den Pädosexuellen, die bis dahin ungestört agieren konnten, | |
Bewegungsspielraum. Gab es da keine Auseinandersetzungen? | |
Doch, es gab erbitterten Widerstand in Kreuzberg gegen viele, die zu diesen | |
Themen arbeiteten und so öffentlich machten. Im Bezirk gab es ja viele im | |
sozialen Bereich, die zu diesem Thema arbeiteten. In der Partei waren wir | |
ziemlich allein. In einer Redaktionssitzung des Stachels erschien eine | |
Gruppe Männer und bedrohte uns: Wenn wir nicht aufhörten mit unserer | |
Arbeit, werde man es uns schon zeigen. Wir machten weiter – obwohl wir auch | |
aus anderen Zusammenhängen massiv Kritik bekamen. Unsere Präventionsarbeit | |
richtete sich an Mädchen und Jungen. Das passte vielen nicht, weil, so | |
sahen es manche, die Jungen wieder unangemessen viel Aufmerksamkeit | |
bekamen: Jetzt sollten die auch noch Opfer sein? Nach viel politischer und | |
fachlicher Überzeugungsarbeit aber wurden wir ab 1991 vom Jugendsenat | |
gefördert. | |
Der Verein Strohhalm gibt es bis heute. Wie hat sich die Arbeit mit den | |
Kinder verändert im Vergleich zu den 1980ern? | |
Die Pädosexuellen haben sich weitgehend aus der Öffentlichkeit | |
zurückgezogen. Sie agieren stärker im Privaten und im Internet. Sie sind | |
auch nicht mehr unser einziger Fokus. Aber auch die andere Seite ist | |
professioneller geworden: Pädagogen erkennen früher, wenn es einem Kind | |
schlecht geht. Zwar ist Wissen über sexuellen Missbrauch immer noch nicht | |
im Lehrplan oder der Pädagogenausbildung verankert – was immer unser Ziel | |
war. Aber insbesondere die Polizeiarbeit hat sich enorm verbessert. Früher | |
konnte man niemandem zur Anzeige raten, heute gibt es spezielle Dezernate | |
mit geschultem Personal. | |
Wo liegt der Fokus Ihrer Arbeit jetzt? | |
Wir bieten stadtweit Präventionsprogramme in Familien, Grundschulen und | |
Kitas an. Wir haben inzwischen auch ein eigenes Projekt „Heroes“, das sich | |
um Missbrauchsrisiken in Einwandererkulturen kümmert. Wir schulen Jungen | |
aus ehrenkulturellen Milieus als „peers“ aus, um bei ihren Altersgenossen | |
klar zu machen, dass auch Unterdrückung im Namen der Ehre viel mit Gewalt | |
zu tun hat. Außerdem stoßen wir vermeintliche Gewissheiten um wie: | |
‚Erwachsene haben immer Recht‘. Und leisten Aufklärungsarbeit, was das | |
Kennenlernen des eigenen Körpers angeht. Wer seinen Körper kennt, tappt | |
nicht so leicht in die Falle. Das leuchtet, nach anfänglichem Misstrauen, | |
übrigens auch allen Eltern ein. Ein neuer Schwerpunkt des Vereins sind | |
sexuelle Übergriffe unter Kindern, hier geht es um Opfer- und | |
Täterprävention. Wenn Kinder schon frühzeitig lernen, nicht die Grenzen von | |
anderen zu verletzen, werden sie später nicht so leicht zu Tätern. | |
1 Jun 2015 | |
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## AUTOREN | |
Nina Apin | |
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