# taz.de -- Die Wahrheit: Drohnen statt Kindergärtnerinnen | |
> Unter den massiven Folgen des bundesweiten Kita-Streiks leidet auch eine | |
> Kindertagesstätte im niedersächsischen Garbsen. | |
Bild: Wie Kühe bekommen Kinder jetzt Markierungen ins Ohr. | |
„Es ist wirklich nur ein winzig kleiner medizinischer Eingriff“, versucht | |
Informatiker Bernhard Wesin die aufgebrachte Mutter zu überzeugen, aber | |
Amelie Bärcher hat sich mit ihrer Tochter im Ausguck des hölzernen | |
Piratenschiffes verschanzt. Um das Spielgerät hat sich eine Meute erregter | |
Eltern versammelt, die wahlweise die eine oder andere Partei anfeuert, | |
während sich die meisten Kinder im Gruppenraum zu einer kleinen Feierstunde | |
versammelt haben. Sie legen Geschenke und Blumen vor selbst gemalten | |
Porträts ihrer Erzieherinnen ab und halten einander tröstend in den Armen. | |
Manche sind in stillem Gebet versunken. Ein Bub fleht eine Gottheit namens | |
Optimus Prime um die baldige Wiederkehr wenigstens des Praktikanten an. | |
Wegen des Streiks der Erzieherinnen und Erzieher haben nämlich die Eltern | |
vorübergehend das Regiment in der städtischen Kindertagesstätte übernommen, | |
die am Rande Garbsens in einem bürgerlichen Neubauviertel liegt, idyllisch | |
umschlossen von Autobahnzubringer und Baumarkt. „Auf keinen Fall werden sie | |
mein Kind chippen“, ruft Mutter Bärcher vom Mast herunter, während | |
Töchterchen Alina den fassungslosen Informatiker Wesin mit Massagebällen | |
bewirft, die eigentlich der Kindesberuhigung dienen sollen. | |
„Das ist schon recht gut, Alina“, lobt Bärcher und greift ihrerseits zu | |
einem Wurfgeschoss. „Wir holen mit einer runden, fließenden Bewegung aus. | |
Aber dann legen wir all unsere Enttäuschung und unsere Wut über den | |
patriarchalischen Unterdrückungsapparat in den Wurf. Stell dir jetzt | |
einfach mal vor, der böse Mann dort unten ist dein Vater.“ Offenbar | |
fruchten die aufmunternden Worte der alleinerziehenden Mutter, denn kurz | |
darauf wird der Informatiker von zwei Massagebällen äußerst hart am Kopf | |
getroffen. | |
„Es ist doch nur zu ihrem Besten“, versucht der es unverdrossen weiter. „… | |
mehr Daten wir über unsere Kinder sammeln, umso präziser wird das | |
Persönlichkeitsprofil, auf dessen Grundlage wir ihre Persönlichkeiten | |
optimieren können. Außerdem kann ich nicht zulassen, dass ihr | |
unkontrolliertes Kind den Datensatz meines Jungen kontaminiert.“ | |
Der kleine Linus-Ferdinand tapert währenddessen blindlings in Richtung | |
Autobahnzubringer. Wegen der Datenbrille, die ihm jederzeit Wissenswertes | |
über seine Umgebung in acht Sprachen anzeigt, ist seine Sicht arg | |
eingeschränkt. Außerdem behindern ihn Kabel, die seine Hirnströme messen, | |
und ein Sender, der sämtliche Vitalparameter auf die Smartphones der Eltern | |
funkt. Den Ausdruck Helikopter-Eltern lehnen die Wesins jedoch entschieden | |
ab. „Wir bevorzugen Drohnen, um ein lückenloses Bewegungsprofil unseres | |
Kindes zu erstellen“, erklärt Frau Wesin, die eigentlich nur für analoge | |
Erziehungsarbeit zuständig ist. | |
Auch Bauleiter Burkhard Mettler lässt heute Vormittag die Arbeit auf der | |
Baustelle ruhen, um in den Alltag der bestreikten Kita ein wenig Struktur | |
zu bringen, wie er sagt. „Sie bringen hier mutwillig die gemeinsam | |
vereinbarte Roadmap durcheinander“, versucht er Amelie Bärcher vehement zur | |
Raison zu bringen. „Dem Zeitplan zufolge hätten sie den Ausguck bereits vor | |
siebeneinhalb Minuten räumen müssen.“ Eine Dame im Businesskostüm händigt | |
den Wartenden umgehend ihre Visitenkarte aus und verspricht, deren | |
Ansprüche notfalls vor Gericht durchzusetzen. | |
Doch nicht alle Kindergärten sind vom Streik betroffen – die Angestellten | |
kirchlicher Anstalten haben ohnehin Demut, Enthaltsamkeit und | |
gottesfürchtige Lohnzurückhaltung geschworen und auch Einrichtungen freier | |
Träger bleiben meist vom Ausstand unberührt. | |
„Mein Mann und ich haben die Kita unserer Kinder längst als | |
Offshore-Gesellschaft reorganisiert, in der nun altägyptisches Arbeitsrecht | |
gilt“, erklärt etwa Investmentbankerin Ortrud Lommerdinck. „Seitdem sind | |
die Angestellten und wir wie eine große Familie. Vielleicht sogar wie eine | |
Religionsgemeinschaft, mit unseren Kindern als Göttern.“ | |
Erfreuliches hat auch Familie Lehminck zu berichten, deren Kinder in | |
Garbsen-Nord den idyllischen Jane-Goodall-Waldkindergarten besuchen. „Vom | |
Streik haben wir erst aus den Medien erfahren. Wir waren vollkommen | |
überrascht, denn unsere Kinder hatten ihre Kobel wie immer im Morgengrauen | |
verlassen. Wenn wir ihre Spuren richtig deuten, haben sie eine Weile im | |
Wald nach Bezugspersonen gesucht und sich dann einer Bache und ihren | |
Frischlingen angeschlossen. Ein toller Erfolg. Unser Ziel war ohnehin die | |
vollständige Auswilderung der Kinder.“ | |
Der kleine Linus-Ferdinand hat sich unterdessen erfolgreich unter dem | |
Maschendrahtzaun hindurchgewühlt und dabei sämtliche Überwachungstechnik | |
einschließlich des gechipten Ohrläppchens abgestreift. Und während die | |
Drohne noch immer über dem Zaun kreist, bricht ein Kind mit blutendem Ohr | |
und zutiefst entschlossen in die Welt auf. | |
19 May 2015 | |
## AUTOREN | |
Christian Bartel | |
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