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# taz.de -- Ian McEwan: Sex ist nie einfach
> In seinem Roman "Am Strand" erzählt Schriftsteller Ian McEwan von der
> Zeit vor der sexuellen Revolution - und einer folgenreichen
> Hochzeitsnacht.
Bild: Protagonisten mit Acht-Stunden-Ehe: Autor Ian McEwan
In vielen Büchern von Ian McEwan spielt Sex eine Rolle, oft eine heikle. In
seinem Roman "Abbitte" haben seine Protagonisten Sex zwischen den Regalen
der Hausbibliothek. In der Kurzgeschichte "Erste Liebe, letzte Riten"
werden sie von Gebärmutterschleim- und Spermafantasien getrieben. Sein
gerade erschienener neuer, schmaler und unbedingt lesenswerter Roman "Am
Strand" handelt von einem Paar, dem es nicht gelingen will, den Sex in das
gemeinsame Leben zu integrieren.
Die Geschichte spielt in den lange vergangenen Zeiten vor der sexuellen
Revolution. Anfang der 60er-Jahre heiraten Florence Ponting und Edward
Mayhew, ungefähr ein Jahr nachdem sie sich das erste Mal in Oxford begegnet
sind. Selbstverständlich musste bis dahin die Tür von Florences Zimmer
angelehnt bleiben, während Edward dort ihren Violin-Exerzitien lauschte.
Kein Sex vor der Ehe! Die Hochzeitsnacht endet dann aber in einer sexuellen
Katastrophe (die detailliert zu verraten dem Leser gegenüber unfair wäre).
Wichtig ist: Schließlich stürmt die Braut wortlos aus der Honeymoon Suite
des hübschen kleinen Hotels an der Küste - zum Strand!
Dort der große Showdown dieser verunglückten Hochzeitsnacht: Um die eigene
Scham zu verbergen, lassen sich die Frischvermählten zu wechselseitigen
Verletzungen hinreißen, die nicht mehr zurückgenommen werden können. Es
folgt, nach acht Stunden Ehe, die Trennung, bald darauf die Scheidung. Die
nächsten Jahrzehnte erzählt McEwan im Zeitraffer: Keiner wird den anderen
je vergessen, sosehr Edward die sexuellen Turbulenzen von den späteren
swinging Sechzigern an auch genießen wird. Das Leben der beiden
Kurzvermählten verläuft nicht schlecht, aber gemeinsam hätte es etwas
Besonderes werden können. Das ganze Buch erstreckt sich über 200 Seiten und
fünf längere Kapitel, ein Aufbau, der - fünfaktig, wie er ist - auf die
Unausweichlichkeit dieser Sextragödie anzuspielen scheint, zugleich durch
zahlreiche Flashbacks aufgebrochen wird.
Diese Erinnerungen an die verschiedenen Stadien der Beziehung zwischen
Florence und Edward verleihen dem Geschehen Tiefe. Ian McEwan beherrscht
die Kunst, seine Figuren plastisch werden zu lassen. Florence ist kein
dümmliches Töchterchen der Upper Class, und auch Edward ist mit seiner
ländlichen Bodenständigkeit durchaus sympathisch. Sosehr die beiden auch
Kinder ihrer Zeit sind, einer Zeit, in der "Gespräche über sexuelle
Probleme schlicht unmöglich waren" - der Roman löst die Behauptung, die er
auf der ersten Seite aufstellt, mehr als ein: nämlich dass solche Dinge wie
Sex niemals einfach seien.
Warum klappt es zwischen Florence und Edward nicht? McEwans Antwort ist
genauso nachvollziehbar wie unbefriedigend - unbefriedigend wie die
Hochzeitsnacht selbst: Es geht schief, weil alles auch ebenso gut hätte
anders laufen können. Wenn Edward Florences Schamhaar zum Beispiel doch
noch etwas länger bewegt hätte. Oder wenn Florence nicht ganz so eifrig
gewesen wäre, dem Hinweis ihres Sexualhandbuchs Folge zu leisten, nämlich
dem Mann beim Penetrieren behilflich zu sein. Es ist nicht schön zu lesen,
dass zu Beginn einer sexuellen Beziehung jede Handlung und jede
Unterlassung entscheidend sein kann, es ist sogar ziemlich beunruhigend -
aber es überzeugt. So unausweichlich die Tragödie dieser fünf Kapitel auch
sein mag, so sehr beruht sie wie viele andere auch auf der hamartia, auf
dem Versehen, auf dem kleinen, an und für sich unbedeutenden Missgeschick,
das fatale Folgen nach sich zieht.
Zugegeben, es hilft der Beziehung sicher nicht, dass Edward sich kaum für
die Musik des Streichquartetts zu erwärmen vermag, das Florences ganzen
Lebensinhalt darstellt. Und bestimmt gab es günstigere Momente für die
Erkundung der eigenen Sexualität als die frühen 60er-Jahre. Doch die, wenn
man will, wahre Größe dieses Romans besteht in der Entschiedenheit, mit der
er sich weigert, eine befriedigende Antwort zu geben.
Den einzigen Vorwurf, den man McEwan machen möchte, ist der, dass er am
Ende doch nicht ganz und gar konsequent ist in seinem Verweigern von
Erklärungen: Es finden sich einige Andeutungen, dass Florence in ihrer
Kindheit missbraucht wurde, an diesen Stellen untergräbt "Am Strand" sein
Thema, dass Sex immer schwierig sei. Sie sind unnötig. Leider kann Sex eben
auch dann zum Problem werden, wenn keiner der Partner je das Opfer
sexuellen Missbrauchs geworden ist.
Dennoch ist "Am Strand" ein großartiger Roman, nicht zuletzt aufgrund der
Einfühlung, mit der sich McEwan seinen beiden Hauptfiguren nähert. Auf dem
kurzen Weg zum Hochzeitsbett wiederholt sich in Florences Kopf immer und
immer wieder eine Melodie, die sich wie eine Frage nicht auflösen lässt.
Edward steht nach seinem sexuellen Versehen minutenlang allein im Raum und
hält seine Hose in der Hand. Er bringt es nicht über sich, dieses
Kleidungsstück anzuziehen und sich damit wieder der Welt zu stellen.
Ian McEwans vorangegangenem Roman, "Samstag", war ein Gedicht des Dichters
Matthew Arnold nachgestellt. Ihm zufolge manifestiert sich am Strand das,
was der große Tragödiendichter Sophokles vor langer Zeit in den Wellen der
Ägäis gehört hatte: "the ebb and flow / Of human misery". Zwei Leben können
sich in wenigen Augenblicken entscheiden. Dieses Auf und Ab der
menschlichen Misere stellt Ian McEwan in seinem neuen Roman an ganz
individuell gezeichneten Einzelschicksalen dar.
Ian McEwan: "Am Strand". Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes
Verlag, Zürich 2007, 207 Seiten, 18,90 Euro
21 Jul 2007
## AUTOREN
Margret Fetzer
## TAGS
Schwerpunkt Brexit
Ehe
Gesellschaftskritik
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