# taz.de -- Berliner Adventskalender: Granatenstraße 22 | |
> Jedes Haus hat eine Nummer. Doch was dahintersteckt, wissen nur wenige. | |
> Zum Glück gibt es Adventskalender: Da darf man täglich eine nummerierte | |
> Tür öffnen - und sich überraschen lassen. | |
Berliner lieben Mäusespeck - Mäusespeck von Aseli. Davon ist Michael | |
Seliger überzeugt. "Ich weiß es", sagt der Mann im weißen Kittel mit den | |
herben Gesichtszügen, die so gar nicht zum Duft nach Zuckergebackenem und | |
siebtem Kinderhimmel passen wollen. Seligers Wissen geht so: Wenn jemand | |
die grauen Schaumzuckermäuse mit den roten Augen zu greifen bekommt, die | |
grünen Schaumzuckerelefanten mit Waldmeistergeschmack, die gelben | |
Schaumzuckerkatzen, die einen Zitronenhauch auf der Zunge hinterlassen, | |
dann blitzt Berliner Kindheit durch, egal wie alt der ist, der sich die | |
Süßigkeit in den Mund steckt. | |
Man muss in den hintersten Winkel vom Wedding fahren, dorthin, wo die | |
Koloniestraße in einen Schleichweg entlang der S-Bahn mündet, der, hat man | |
sich vom Gefühl des Nirgendwo nicht abschrecken lassen, um die Ecke biegt | |
und zum Ende der Granatenstraße führt. Die liegt, man mag es kaum glauben, | |
in Reinickendorf und damit in einer anderen Welt. Gleich hier, in der | |
Hausnummer 22, ist die Quelle der Köstlichkeiten, um die es hier geht. | |
Aseli eben. Und damit nicht weniger als die Berliner Konkurrenz zu Haribo. | |
"Die Ausformung ist bei uns schöner", sagt Seliger. | |
Aber das mit Haribo ist dennoch zu hoch gegriffen. Denn Massenware ist es | |
keineswegs, was die zehn Mitarbeiter und der Chef bei Alfred Seligers | |
Nachfahren in dritter Generation und "in bester handwerklicher Tradition" | |
fertigen: Schaummäuse mit Augen. Oder Sandmännchen, Krokodile, Waldschrate, | |
Pittiplatsch. Figuren, die das Kind in den meisten wieder wach werden | |
lässt, egal wie lange es schon eingeschlafen ist. | |
Manchmal denkt sich Seliger auch neue Figuren aus. Seehunde in Pink etwa | |
oder Weihnachtsmänner mit roten Nasen. Dann lässt er die Model von einem | |
Finnen, der früher mal in Berlin lebte, fertigen. Mit denen werden | |
Negativformen in das Maisstärkenbett gedrückt. In die so entstandenen | |
Hohlräume wird die süße Flüssigkeit gegossen, die noch in Kupferkesseln in | |
purer Handarbeit gerührt wird. Selbstredend sind die Rezepturen dafür | |
geheim. "Wir können nur durch Exklusivität bestehen. Wir arbeiten mit | |
besten Zutaten." Naturidentisch ist out, natürlich ist in. Ja, Seliger will | |
dem Trend noch weiter folgen: Bald werden die Lebensmittelfarben durch | |
färbende Lebensmittel ersetzt. Rote Bete, Spinat, Heidelbeere etwa. Das | |
wird neue Mäusespeckfarben geben. Wie schon die Mickys für Dänemark und | |
Holland anders sind als das Pastellfarbenszenario, das vielen echten | |
BerlinerInnen als Inbegriff guter Ästhetik daherkommt. Die Export-Mäuse | |
sind mit Lakritz versetzt und daher grau. | |
Michael Seliger, der Zuckerbäcker von heute und Enkel des einstigen | |
Firmengründers, der samt seiner Gemahlin von einem alten Foto im Werksladen | |
herunterlächelt, hat sich den Beruf nicht ausgesucht. Seine Noten sollen zu | |
schlecht gewesen sein, der Vater besorgte ihm dann eine Lehrstelle. "Aber | |
damals hat man ja noch mit schlechten Zeugnissen gute Lehrstellen gefunden. | |
Heute kriegen die ja gar nichts mehr." Egal wie es für ihn gelaufen ist - | |
hätte Michael Seliger gewusst, wie viel Spaß ihm die Arbeit als | |
Kleinunternehmer im süßen Gewerbe macht, dann wäre er bereitwillig | |
Schaumbäcker geworden, versichert er. | |
In Seligers kleiner Süßwarenfabrik ist die Belegschaft international. Aus | |
Kuba, aus Thailand, aus Polen stammen die MitarbeiterInnen, zählt der Chef | |
auf. "Ich bin auch für Mindestlohn", fügt er gleich noch hinzu. | |
"Arbeitgeber müssen sich in diese Debatte einmischen, sie dürfen sie nicht | |
den Politikern überlassen." Bei Aseli jedenfalls können und sollen die | |
Leute von ihrer Arbeit leben können, sagt er. Deshalb arbeiten einige der | |
Angestellten auch schon lange bei ihm. Sie haben auch die Wende mitgemacht, | |
als der Wegfall der Berlinzulage dem kleinen Unternehmen, das früher mit | |
dem Rücken zur Mauer stand, fast das Genick gebrochen hat. "Heute geht es | |
uns gut." Er führt durch die Produktionsräume der Firma, die nach Aromen | |
von Banane und Zitrone riechen. Gerade wird in einem der Räume eine neue | |
Verpackungsmaschine aufgestellt. Gleich nebenan verzieren mehrere | |
Angestellte in rasender Geschwindigkeit die weißen Mäusespeckmäuse mit | |
kleinen roten Zuckeraugen. So stellen sie sicher, dass die echten Berliner | |
und Berlinerinnen nie ihre Kindheit vergessen. | |
22 Dec 2007 | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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