# taz.de -- Debatte Sozialstaat: Auf Abstand bedacht | |
> Die Wut auf Hartz-IV-Empfänger speist sich aus dem Ärger der | |
> Mittelschicht über den Verlust ihrer sozialen Sicherheit und zu niedrige | |
> Löhne. | |
Welche politische Energie hält die Debatte über Hartz-IV-Empfänger am | |
Kochen? Und was lässt die Zustimmungswerte für FDP-Chef Guido Westerwelle | |
in die Höhe klettern? Wer die Debatte verfolgt, bekommt den Eindruck, dass | |
sich darin eine lange angestaute Stimmung gegen Sozialleistungsempfänger | |
Bahn bricht. | |
Das Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts erklärt nicht die Verve, | |
mit der die Debatte über Missbrauch und Lohnabstand von Hartz-IV-Empfängern | |
jetzt geführt wird. Auch aus dem Verhalten der Betroffenen selbst lässt sie | |
sich nicht ableiten. Der Missbrauch beim Hartz-IV-Bezug hat nicht | |
zugenommen. Und der Vorwurf, viele Arbeitslose würden es sich zu Hause mit | |
der Stütze bequem machen und zu wenig Engagement bei der Jobsuche zeigen, | |
lässt sich nicht erhärten. Studien vom Nürnberger Institut für | |
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zeigen vielmehr, dass viele Erwerbslose | |
heute eher bereit sind, einen auch ungeliebten Job zu akzeptieren. Mehr als | |
ein Viertel der ehemaligen Hartz-IV-Bezieher nehmen sogar eine Tätigkeit | |
unter ihrem Qualifikationsniveau an, erklärte unlängst Heinrich Alt, | |
Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit. | |
Vor allem der Abstand zwischen Niedrigverdienern und | |
Sozialleistungsempfängern steht im Fokus der Debatte. Das Beispiel wird | |
endlos wiederholt: Ein Erwerbstätiger mit niedrigem Einkommen und Familie | |
verdient nicht viel mehr, als eine Bedarfsgemeinschaft gleicher | |
Konstellation an Hartz-IV-Leistungen erwarten darf. Er bekommt auf Antrag | |
zwar eine ergänzende Hartz-IV-Leistung, sodass sein Monatseinkommen bei | |
einem Vollzeitjob um etwa 300 Euro höher liegt als bei einem Erwerbslosen. | |
Doch das beruhigt empörte Leserbriefschreiber nicht: Sie rechnen vor, dass | |
zum Beispiel für seinen Weg zur Arbeit Fahrtkosten anfallen. Und schließen | |
daraus, dass es sich doch wirklich nicht lohnt, für 300 Euro mehr im Monat | |
jeden Tag zu ackern - das sei ein Stundenlohn von nicht mal 2 Euro! | |
Nun war es auch früher schon so, dass Erwerbstätige in schlecht bezahlten | |
Berufen - etwa Leiharbeitnehmer oder Friseurinnen - mit ihrem Gehalt nicht | |
weit über dem Satz lagen, der einer mehrköpfigen Familie als Sozialleistung | |
zusteht. Doch dieser "Lohnabstand" beschäftigte damals die öffentliche | |
Meinung nicht so stark wie heute. Man ging ohnehin nicht davon aus, dass | |
etwa ein Kellner mit seinem Gehalt allein eine vierköpfige Familie ernähren | |
kann, ohne dass seine Frau dazuverdient und Kinder- und Wohngeld sein | |
Einkommen wesentlich aufbessern. | |
Das "Lohnabstandsgebot", das eine ausreichende Einkommensdistanz zwischen | |
einer fünfköpfigen Familie mit Alleinverdiener und der gleichen | |
Haushaltsgemeinschaft auf "Stütze" verlangt, gibt es so auch nur im | |
Sozialhilferecht und nicht in der Hartz-IV-Gesetzgebung (SGB II). Doch | |
Recht und Gerechtigkeitsempfinden sind zweierlei. Im Scheidungsrecht zum | |
Beispiel gibt es schon lange kein "Schuldprinzip" mehr. In den Köpfen von | |
sich trennenden Ehepartnern aber schon. Auch mag das Gesetz nicht zwingend | |
einen Lohnabstand oder eine Gegenleistung für den Hartz-IV-Bezug vorsehen. | |
Im Wertesystem vieler Menschen aber gilt das Prinzip der Gegenleistung. An | |
genau dieses Empfinden appelliert Westerwelle. Dabei weiß er ganz genau, | |
dass gemeinnützige Arbeit von mehr als zwei Millionen Menschen die | |
Privatwirtschaft hierzulande zerstören würde. | |
Es rächt sich jetzt, dass Hartz IV nicht stärker differenziert, vor allem | |
nicht nach Lebensleistungen. Vielmehr hat gerade die abgabenzahlende | |
Mittelschicht in den vergangenen 10 bis 15 Jahren das Recht auf viele | |
statuserhaltende Sozialleistungen eingebüßt. So wurde die Bezugsdauer von | |
Arbeitslosengeld I verkürzt, der Zugang zur Erwerbsunfähigkeitsrente | |
erschwert und der frühe Zugang in eine armutsfeste Rente blockiert. Die Wut | |
über den Verlust dieser sozialen Sicherungen bekommen jetzt, mit etwas | |
Verspätung, die Hartz-IV-Empfänger zu spüren. Deren Regelsätze stellen für | |
Facharbeiter und Bürger, die sich über vermeintlich zu hohe Steuern ärgern, | |
eben keine Exit-Optionen dar. | |
Weil der Abstand zwischen Erwerbslohn und Existenzminimum so gering ist, | |
müssten Beschäftigte nun eigentlich für höhere Einkommen kämpfen. Mit gutem | |
Grund, schließlich wächst der Niedriglohnsektor. Doch genau solche Kämpfe | |
finden nicht statt. In der Metallindustrie einigten sich die Tarifpartner | |
mit Blick auf die Wirtschaftskrise geräuschlos auf einen bescheidenen | |
Abschluss, stillschweigend bezogen sie dabei die staatlichen Kassen mit | |
ein. Die Tarifrunde im öffentlichen Dienst findet kaum Aufmerksamkeit. | |
Erzieherinnen, die via Streik ihr Nettogehalt von 1.300 Euro erhöhen | |
möchten, sehen sich Vorwürfen ausgesetzt, sie würden das Gemeinwesen | |
schädigen. Leiharbeitnehmer sind aufgrund ihrer Jobstruktur ohnehin kaum | |
für einen Arbeitskampf zu organisieren. Als Folge der Wirtschaftskrise, der | |
Hochverschuldungen und der Deregulierungen herrscht an der Tariffront eine | |
Lähmung, die ganz im Gegensatz zur aufgeregten Hartz-IV-Debatte steht. | |
Die Politik aber sollte sich jetzt mit der Frage der Entgelte, der | |
Kaufkraft und der finanziellen Gegenleistung für Arbeit beschäftigen. Auch | |
eine schwarz-gelbe Regierung muss sich über kurz oder lang für Mindestlöhne | |
starkmachen. Anstatt über "Hinzuverdienstgrenzen" für Hartz-IV-Empfänger zu | |
reden, sollten Sozialpolitiker darüber nachdenken, wie man niedrige | |
Einkommen durch Zuschüsse je nach Familienstand so ergänzen kann, dass | |
niemand dieser Erwerbstätigen zum Jobcenter muss. | |
In Großbritannien etwa gibt es die negative Einkommensteuer, die ohne | |
Vermögensprüfung gezahlt wird. Alleinstehende Kleinverdiener bekommen den | |
Steuerbonus bei einer Wochenstundenzahl von 30, Alleinerziehende schon ab | |
16 Arbeitsstunden. | |
Wer sich für Mindestlöhne starkmacht, der sendet das politische Signal, das | |
Arbeit wertgeschätzt wird. Diese psychologische Dimension sollten auch | |
konservative Sozialpolitiker erkennen. Das wäre ein Anfang. | |
23 Feb 2010 | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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