# taz.de -- Diskussion um Niedriglöhne: "Wer arbeitet, hat immer mehr" | |
> Macht Hartz IV faul? Nein, sagt Ulrich Schneider vom Paritätischen | |
> Gesamtverband. Westerwelle und der Steuerzahlerbund würden "bewusste | |
> Irreführung" betreiben. | |
Bild: Eine Verkäuferin mit zwei Kindern verdient 500 Euro mehr als mit Hartz I… | |
BERLIN taz | "Bewusste Irreführung" der Öffentlichkeit wirft Ulrich | |
Schneider, Chef des Paritätischen Gesamtverbandes, FDP-Chef Guido | |
Westerwelle, dem Bund der Steuerzahler und dem Kieler Institut für | |
Weltwirtschaft vor. Diese würden mit "unvollständigen Berechnungen" den | |
Eindruck erwecken, als erhielten Hartz-IV-Empfänger vom Staat mehr Geld, | |
als Millionen Beschäftigte durch harte Arbeit selbst verdienten. | |
Westerwelle hatte Langzeitarbeitslosen "anstrengungslosen Wohlstand" und | |
"Dekadenz" vorgeworfen. Das Arbeitslosengeld II (Hartz IV) dürfe auf keinen | |
Fall erhöht werden, warnte der FDP-Chef. Das Bundesverfassungsgericht hatte | |
zuvor die mangelhafte Berechnung der Leistungen gerügt. Jetzt diskutiert | |
Deutschland: Ist Hartz IV zu hoch oder zu niedrig? | |
Im Kern der Debatte steht die Frage: Ist das Lohnabstandsgebot im | |
praktischen Wirtschaftsleben heutzutage überhaupt noch wirksam? Dieses Ziel | |
des Sozialstaates besagt, dass die staatliche Unterstützung für Arbeitslose | |
wesentlich unter dem Lohn liegen muss, den Beschäftigte mit eigener Arbeit | |
verdienen können. Nach herrschender Meinung haben Arbeitslose nur dann | |
einen materiellen Anreiz, sich um Arbeit zu bemühen. | |
Westerwelle und andere Wirtschaftsliberale bezweifeln die Wirksamkeit des | |
Lohnabstands. Ihrer Ansicht nach liegt das Hartz-IV-Niveau zu hoch. "Wer | |
arbeitet, hat immer mehr", betonte dagegen Ulrich Schneider am Montag in | |
Berlin. Sein Verband hat knapp 200 Beispielrechnungen für niedrige | |
Einkommen vorgelegt und diese mit den staatlichen Zahlungen im jeweiligen | |
Fall verglichen. Danach verdient etwa ein ostdeutscher verheirateter | |
Zeitarbeiter (Leistungsgruppe 5) mit zwei Kindern 1.099 Euro brutto pro | |
Monat. Mit Kindergeld und Hartz-IV-Aufstockung kommt er auf 1.919 Euro | |
netto. Würde der Zeitarbeiter nicht arbeiten, erhielte er nur 1.649 Euro | |
Arbeitslosengeld II. | |
Ein anderes Beispiel: Eine verheiratete Verkäuferin mit zwei Kindern | |
erwirtschaftet mit einem Vollzeitjob (Leistungsgruppe 4) in Westdeutschland | |
1.903 Euro Bruttolohn. Weil Kindergeld, Kinderzuschlag und Wohngeld | |
hinzukommen, beträgt das Nettoeinkommen 2.281 Euro pro Monat. Das | |
entsprechende Arbeitslosengeld II liegt mit 1.753 Euro weit darunter. | |
Dem Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler wirft Schneider vor, | |
geschlampt zu haben. Das Institut habe in seinen Berechnungen staatliche | |
Zulagen wie Kindergeld und Wohngeld vergessen. Ein Kommentar des Instituts | |
war bis Redaktionsschluss nicht zu erhalten. | |
Schneider argumentiert: Gerade durch diese staatlichen Leistungen, die nur | |
erhält, wer eigenes Einkommen erzielt, schaffe der Sozialstaat den Anreiz | |
zur Lohnarbeit. Alles in Butter also? Nicht ganz. Die Berechnungen des | |
Paritätischen Verbandes ziehen die Grenze für Niedriglohn bei knapp 6 Euro | |
pro Stunde. Bis dorthin funktioniere das System - der Lohnabstand sei | |
gewahrt. | |
Bei Löhnen von nur 4 oder 5 Euro, die auch zur Wirklichkeit gehören, sieht | |
das anders aus. Dort kann Hartz IV durchaus mehr Geld bringen als eine | |
Vollzeitstelle. Eine derart miese Bezahlung hält Schneider freilich für | |
"unmoralisch" und fordert Mindestlöhne. Außerdem handele es sich bei diesen | |
Niedrigstverdiensten zum Glück eher um Ausnahmen und nicht um die Regel. | |
2 Mar 2010 | |
## AUTOREN | |
Hannes Koch | |
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