# taz.de -- Politologe über jugendliche Flüchtlinge: "Jugendhilfe muss an ers… | |
> Nach dem Suizid eines georgischen Flüchtlings in Hamburg: Jugendliche, | |
> die ohne Verwandte nach Deutschland fliehen, brauchen Unterstützung, | |
> fordert Fachmann Berthold. | |
Bild: "Abschiebehaft löst eine große Unsicherheit aus": Flüchtling in "Unter… | |
taz: Herr Berthold, in welcher Situation leben unbegleitete minderjährige | |
Flüchtlinge in Deutschland? | |
Thomas Berthold: Wir gehen davon aus, dass es in Deutschland mindestens | |
6.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge leben - und ihre Situation | |
hängt sehr davon ab, in welcher Stadt und in welchem Bundesland sie landen. | |
Gesetzlich ist vorgesehen, dass das Jugendamt vor Ort den Flüchtling | |
zunächst in Obhut nimmt, sich also um eine Übernachtungsmöglichkeit in | |
einer geeigneten Einrichtung kümmert und die ersten Schritte in Deutschland | |
begleitet. | |
Wie sieht es in der Praxis aus? | |
Im Idealfall kommen die Jugendlichen nach dieser Anfangsphase in sogenante | |
Clearinghäuser, in denen es Fachpersonal und Dolmetscher gibt. Dort haben | |
sie drei bis sechs Monate Zeit und Ruhe, das Erlebte zu bearbeiten und | |
Perspektiven zu entwickeln. Da wird zum Beispiel überlegt, ob es woanders | |
Familie gibt und eine Weiterwanderung sinnvoll ist, oder wo das | |
diagnostizierte Trauma besonders gut behandelt werden kann. Gleichzeitig | |
muss die ausländerrechtliche Situation geklärt werden. | |
Und wenn es nicht ideal läuft? | |
Dann landen sie, meist 16- und 17-Jährige, in Gemeinschaftunterkünften mit | |
erwachsenen Asylbewerbern, wo es keine adäquate Betreuung für Jugendliche | |
gibt. Oder in Abschiebehaft wie jetzt in Hamburg. Es wird immer | |
problematisch, wenn nicht die Jugendhilfe an erster Stelle steht , sondern | |
das Ausländerrecht. Und das passiert in Hamburg, aber auch in anderen | |
Bundesländern immer wieder. | |
Welche psychologischen Konsequenzen hat das? | |
Die Jugendlichen haben die Erfahrung gemacht, sich nur auf sich selbst | |
verlassen zu können. Sie waren enorm hohen Belastungen ausgesetzt zum | |
Beispiel in Flüchtlingslagern, manche haben bei der Ermordung der Eltern | |
zugesehen. Sie haben keine Möglichkeit, all das zu verarbeiten. Sie müssen | |
erst wieder lernen, Vertrauen aufzubauen, Beziehungen zu entwickeln. | |
Werden sie dabei unterstützt? | |
In Städten wie Berlin, München oder Düsseldorf gibt es Einrichtungen, in | |
denen Spezialisten für jugendliche Flüchtlinge arbeiten. Dort gibt es | |
Gruppen von Jugendlichen aus dem gleichen Land, die sich in Gesprächsrunden | |
austauschen. Und dann gibt es die ganz reguläre Psychotherapie. Ganz viel | |
ist aber von den Sozialarbeitern in den Einrichtungen abhängig. Wenn es | |
dort Kontakt gibt und die Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen, ist viel | |
gewonnen. | |
Was passiert nach dieser Übergangsphase? | |
Die Jugendlichen bekommen gleich zu Beginn einen Vormund, mal sind es | |
überarbeitete Amtvormünder, die viel zu viele Fälle haben, mal engagierte | |
Einzelpersonen. Nach dieser Übergangsphase kommen sie je nach Bedarf und | |
Alter in betreute Wohngruppen oder Kinderheime. Dann gibt es Deutsch- und | |
Integrationskurse und den ganz normalen Schulbesuch. Das ist allerdings bei | |
den über 16-Jährigen ein Problem, weil für diese schließlich die | |
Schulpflicht nicht mehr gilt. | |
Was bedeutet Abschiebehaft für einen 17-Jährigen? | |
Das löst eine große Unsicherheit aus. Die Hoffnung, in Deutschland Schutz | |
zu suchen, wird in Frage gestellt. Allein schon die Androhung von | |
Abschiebehaft hat verheerende Folgen. Die Jugendlichen haben Angst, und das | |
nimmt ihnen Kraft, die sie brauchen, um Perspektiven zu entwickeln. | |
INTERVIEW: SABINE AM ORDE | |
11 Mar 2010 | |
## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
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