Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Sexuelle Gewalt in Heimen: "Kinder der Sünde"
> Die Missbrauchs-Debatte ist eine Zwei-Klassen-Diskussion, in der das
> Schicksal der Heimkinder kaum vorkommt, sagt Erziehungsexperte Manfred
> Kappeler. Und erklärt, warum das so ist.
Bild: "Rund 800.000 Heimkinder waren der Institution ausgeliefert."
taz: Herr Kappeler, seit Jahrzehnten beschäftigen Sie sich mit den
Schicksalen jener, die nach dem Krieg in christlichen und anderen
Kinderheimen Opfer von Gewalt - auch sexueller - wurden. In der
Öffentlichkeit wurde dies kaum skandalisiert, ganz im Gegensatz zu den
Missbrauchsfällen nun. Warum?
Manfred Kappeler: Wenn es die Eliteschulen und damit die bürgerlichen
Schichten, die sogenannten tragenden Säulen der Gesellschaft, trifft, dann
gibt es einen Aufschrei. Und den ja zu Recht. Aber für die Heimkinder, die
schon immer abgeschrieben und ausgegrenzt waren, ist das bitter und
empörend. Sie sind offenbar keine relevante Gruppe für die öffentliche
Diskussion.
Seit wann sind die Fälle der Heimkinder bekannt?
Ich habe gerade auf dem Trödel ein Buch von 1952 gefunden, in dem die
sexuelle Gewalt von Männern wie Frauen an Heimkindern bereits beschrieben
ist. Und seit sieben Jahren gibt es ja eine Debatte um die Heimerziehung in
den Fünfziger- und Sechzigerjahren und die Opfer kämpfen darum, anerkannt
zu werden - und erzwangen über den Petitionsausschuss erst einen runden
Tisch. In den Medien wird das eher am Rande abgehandelt. Aber bereits in
der Petition an den Bundestag 2006 spielte die sexuelle Gewalt an den
Heimkindern eine zentrale Rolle. Doch im Zwischenbericht des runden Tisches
dazu ist das nur mit drei Sätzen angesprochen. Eine Woche nachdem der
Bericht vorgestellt wurde, wurden die Fälle im Canisiuskolleg bekannt - und
schon ist von Entschädigung die Rede. Weder von den Ministerinnen, die sich
dazu geäußert haben, noch von der Kanzlerin wurde auch nur mit einem Satz
eine Verbindung zu den Heimkindern hergestellt. Es ist eine
Zwei-Klassen-Diskussion.
Inwiefern?
Der Tenor der Berichterstattung ist immer: Wie kann das an einer
Eliteschule passieren? Aber die Negativfolie davon ist ja: Wenn das in
irgendwelchen Heimen passiert, wo die Kinder eh schon aus
unterprivilegiertem Milieu kommen, dann gehört das irgendwie dazu. Dabei
hatten die Kinder an Eliteschulen zumindest an der Oberfläche intakte
Familien, zu denen sie am Wochenende und in den Ferien gefahren sind. Die
rund 800.000 Heimkinder waren der Institution ausgeliefert. Und wenn sie
sich überhaupt jemals jemandem anvertraut haben, dann hieß es: Du lügst und
stiehlst, du bist verwahrlost, deshalb bist du hier und nun belastest du
die, die sich um dich kümmern.
In der Diskussion nun spielt auch Missbrauch durch Nonnen kaum eine Rolle.
Warum?
Im Prinzip wird immer relativ selbstverständlich davon ausgegangen: Das
kann nicht sein, wie soll das gehen? Dabei gab es das in den Heimen
vielfach. Ich kenne den Bericht einer Frau, die von einer Nonne mit einem
Stock penetriert wurde, Knaben wurden gewaltsam zum Orgasmus gebraucht. In
manchen Fällen war auch der Beichtvater Kristallisationspunkt der sexuellen
Gewalt und die Nonnen Gehilfinnen.
Wie passen christliche Lehre und diese Form von Gewalt zusammen?
In einer meiner Veröffentlichungen beschreibe ich den Bericht einer Nonne,
die einen sieben- oder achtjährigen Knaben dabei erwischt, wie er an sich
rumspielt. Sie gerät außer sich, schleift ihn ins Bad und taucht ihn unter
Wasser, bis er blau anläuft und sie plötzlich erkennt: Ich bin dabei,
dieses Kind umzubringen. Danach ist sie, entsetzt über sich selbst, aus dem
Orden ausgetreten. Diese Frauen - katholische Ordensschwestern genauso wie
Diakonissen - hatten keine Form der Ausbildung oder Reflexion darüber, was
sie da tun. Die christliche Auffassung war damals: Diese - oft unehelichen
- Kinder sind schon Kinder der Sünde, die müssen wir ihnen austreiben. Sie
verführen uns, sie sind die Schuldigen. Manche Nonnen und Priester haben
selbst schon ähnliche Erfahrungen gemacht in der abgeschlossenen
Klosterwelt, in der sie erzogen wurden.
Was müsste getan werden, um den Betroffenen Recht geschehen zu lassen?
Es müsste eine umfassende gesellschaftliche Rehabilitation für die
Heimkinder geben. Das setzt voraus, dass das System der Jugendfürsorge
damals als Unrechtssystem anerkannt wird und die Taten als
Menschenrechtsverletzungen. Eine finanzielle Anerkennung dürfte nicht nur
symbolisch sein - und es müsste alles dafür getan werden, dass nie wieder
solche Verhältnisse entstehen.
Erwarten Sie, dass sich mit dem neuen runden Tisch etwas ändert?
Nicht, wenn die Missbrauchsbeauftragte Christine Bergmann bei der Ernennung
schon sagt, ein Ziel des runden Tisches sei die Versöhnung. Es ist eine
Unverschämtheit, von den Opfern zu erwarten, dass sie vergeben und sich
versöhnen sollen. So wie dieser runde Tisch angelegt ist, soll er im
Wesentlichen der Problementschärfung dienen. Aufarbeiten und dann ab damit
auf den Müllhaufen der Geschichte. Man kann solches Gewalthandeln nicht
aufarbeiten, sondern nur vorbehaltlos aufklären. Aber das setzt den Willen
zur Wahrhaftigkeit voraus.
28 Mar 2010
## AUTOREN
Daniela Zinser
## ARTIKEL ZUM THEMA
Ein Gespräch von Täter zu Opfer: "Da macht der 80jährige auf blöd"
Die Fummeleien begannen, da war der Junge sieben und der Pastor 40 Jahre
alt. Nach Jahrzehnten haben sich die beiden wiedergetroffen. Protokoll
eines Täter-Opfer-Gesprächs
Debatte Reformpädagogik: Deutsche Schrate
Nach den Missbrauchsfällen in der Odenwaldschule: Die Reformpädagogik muss
sich einer radikalen Kritik ihrer Quellen unterziehen. Hauptproblem bleiben
aber die verkrusteten Regelschulen
Odenwald-Schule: Weg frei für einen Neuanfang
Fünf der sieben Vorstandsmitglieder der Odenwaldschule sind zurückgetreten.
Der umstrittene Geschäftsführer Salijevic bleibt noch im Amt, denkt aber
auch an Rücktritt.
Das Schicksal einer Missbrauchten: "Ich war seine Gummipuppe"
Warum viele Missbrauchsopfer erst Jahrzehnte später reden können: Rita
Segbers wurde als Baby von der Mutter an Freier vermietet, als
traumatisiertes Kind vom Therapeuten vergewaltigt.
Die Verirrungen deutscher Reformpädagogik: Von Athen in den Odenwald
Die Verklärung des antiken Athen und die Überhöhung des deutschen
Wandervogels: Ein Essay über den platonischen Weg der deutschen
Reformpädagogik
Missbrauch an Odenwaldschule: Aufarbeitung zwischen Bio und Mathe
Über das Ausmaß des Missbrauchs sind Schüler der reformpädagogischen
Odenwaldschule geschockt. Dennoch ist das alles für sie Vergangenheit. Ein
Besuch.
Kolumne Das Schlagloch: Das pädagogische Monster
Die Missbrauchsskandale werfen Fragen zu Pädophilie und Demokratie auf.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.