# taz.de -- Debatte Reformpädagogik: Deutsche Schrate | |
> Nach den Missbrauchsfällen in der Odenwaldschule: Die Reformpädagogik | |
> muss sich einer radikalen Kritik ihrer Quellen unterziehen. Hauptproblem | |
> bleiben aber die verkrusteten Regelschulen | |
Kein Tag ohne neue Enthüllung. Mit ekelhaften Details wird uns allen vor | |
Augen geführt, wie Pater und Pädagogen ihre Macht über Schüler ausnutzen. | |
Wir müssen den Opfern genau zuhören, um zu verstehen, was es möglich | |
gemacht hat, dass jemand Schutzbefohlene zum Objekt sexueller Interessen | |
degradiert. Das ist schmerzhaft. Aber wenn die Fälle zu irgendetwas nutze | |
gewesen sein sollten, dann dazu: Die heute 40- bis 60-jährigen | |
Missbrauchten können uns Hinweise geben, wie man Kinder und Jugendliche | |
heute davor schützen kann, von ihren Lehrern vergewaltigt zu werden. | |
Der zweite Blick muss sich auf das Datum des Missbrauchs richten, über den | |
wir debattieren: 1970ff. Wir schreiben 2010. Wer sich von den Fällen in | |
Berlin, St. Blasien und Ober-Hambach zu sehr fesseln lässt, wird leicht | |
übersehen, dass es sich beim Kolleg St. Blasien und der Odenwaldschule | |
heute um ganz andere Einrichtungen handelt. Zeiten ändern sich. | |
St. Blasien ist kein weltabgewandtes Kloster im Hotzenwald mit | |
folterkammerähnlichen Verliesen. Es ist nicht mal mehr ein reines Internat, | |
sondern ein öffentliches Gymnasium, das 580 SchülerInnen besuchen, die | |
meisten von ihnen halbtags. Und das Landerziehungsheim Odenwaldschule ist | |
kein Bootcamp für Päderasten, wo der böse Geist des pädophilen Gustav | |
Wynekens spukt. Nein, in der heutigen Odenwaldschule leben junge Lehrer mit | |
eigenen kleinen Kindern, Lehrer, die nicht wenig genervt sind von dem | |
anstrengenden Lehrer- und Erzieherjob, den der Gründer und | |
Knickerbockerträger Paul Geheeb ihnen beschert hat. Beide Schulen sind dem | |
herkömmlichen staatlichen Schulwesen übrigens weit voraus. | |
Zeiten ändern sich | |
Im Odenwald wurde vor 100 Jahren das liberalste der Landerziehungsheime | |
gegründet. In den Häusern am Waldhang leben nicht nur schnöselige reiche | |
Kinder, deren Eltern sich 26.000 Euro Schulgeld im Jahr leisten können. | |
Dort sind viele arme Kinder zu Hause. Schüler, die vor Vernachlässigung und | |
Verwahrlosung in Sicherheit gebracht werden, die sie bei ihren | |
überforderten Eltern erleiden. | |
Das ist die eigentliche Tragödie der Debatte um die Odenwaldschule: Während | |
die halbe Nation auf die Schandtaten eines im Sterben liegenden | |
Reform-Pädophilen in Berlin starrt, werden deutsche Jugendämter den | |
Odenwald nicht mehr als sicheren Hafen für vernachlässigte Kinder anwählen. | |
In der Unterstufe der Odenwaldschule haben zehn von 14 Kindern einen | |
diagnostizierten Förderbedarf. Es gibt nur eine Handvoll Schulen in | |
Deutschland, die mit solchen Kindern überhaupt arbeiten können. Die Lehrer | |
im Odenwald können es ganz sicher. | |
Das ist kein Plädoyer, die Reformpädagogik zu entlasten. Die | |
Missbrauchskrise wird in einer Revision dieses sehr deutschen Zweigs der | |
Pädagogik münden. Das ist gut so, denn manche Vorstellungen der | |
Reformpädagogen sind versponnen, ja abwegig und inakzeptabel. Rudolf | |
Steiner war judenfeindlich und esoterisch, Hermann Lietz | |
nationalkonservativ und antisemitisch, Peter Petersen antisemitisch und | |
unwillig, sich von den Nazis fernzuhalten. | |
Bayern und die Prügelstrafe | |
Wie kam man dann überhaupt auf die Idee, sich auf diese Sonderlinge zu | |
berufen? Dazu muss man sich vor Augen führen, wie brutal deutsche Schulen | |
waren, ehe Reformpädagogen wie Ellen Key eine Pädagogik vom Kinde aus | |
dachten. Schulen waren Prügel- und Zwangsanstalten. Schüler wurden gehalten | |
wie Hühner in Massenverschlägen, Wissen wurde mit Gewalt verabreicht. Noch | |
kurz nach dem Zweiten Weltkrieg führte Bayern die Prügelstrafe wieder ein. | |
Nur so ist verstehbar, warum nicht wenige Deutsche sich und ihre Kinder in | |
teils versponnene Schulkonzepte flüchteten. Allerdings: In ihnen stand | |
erstmals nicht die Institution, sondern das Individuum im Mittelpunkt. Das | |
war ein fundamentaler pädagogischer Perspektivwechsel - und allein er macht | |
die Stärke der Reformpädagogik aus. | |
Wer von der Theorie der Reformpädagogik des 19. Jahrhunderts aus ein Urteil | |
über die Praxis heutiger Alternativschulen fällt, sollte daher acht geben. | |
Viele Abrechnungen dieser Tage übersehen, dass moderne Reformschulen wie | |
etwa die Schulpreisträgerschulen ihren Lernplan nicht nach dem wirren | |
Skript der Reformpädagogen schreiben. Knabenliebe, Pardon, steht dort nicht | |
auf dem Stundenplan. Es gibt überhaupt keinen Stundenplan mehr, weil eben | |
nicht Fächer, sondern Kinder unterrichtet werden. Die modernen Schulen | |
gründen ihre pädagogische Vorstellung auf der Kreativität und | |
Selbstbestimmtheit des einzelnen Kindes. Sie sehen Kinder als die Quellen | |
neuen Wissens. Vorbild dieser Reformschulen sind Arbeits- und | |
Erkenntnisprozesse des 3. Jahrtausends - aber nicht Waldschrate, die ihren | |
Hosenstall nicht zubekommen. | |
Macht abgeben jetzt | |
Die Lehrer von Reformschulen müssen im Umgang mit Kindern entscheidend an | |
Macht und Direktivgewalt abgeben. Sie werden Lernbegleiter. Daher ist es | |
auch ein pädagogisches Verbrechen, was Gerold Becker im Odenwald getan hat. | |
Er hat sich im Gewande des verständnisvollen Lehrers und Freundes seinen | |
Schülern auf Augenhöhe genähert - um ihr Abhängigkeitsverhältnis sexuell | |
auszunutzen, nun wieder als ihr Chef. (Und es ist nicht zu fassen, dass der | |
bedeutendste deutsche Pädagoge der Nachkriegszeit, Hartmut von Hentig, | |
dieses Schema "seines Freundes" nicht etwa entlarvt, sondern bagatellisiert | |
und wegzureden versucht.) | |
Dennoch ist die Post-Becker-Debatte um die Reformpädagogik auch absurd. | |
Denn das pädagogische Problem der Bundesrepublik sind nicht die Handvoll | |
Reformschulen. Es ist die Mehrheit der 30.000 staatlichen Schulen. Sie | |
prügeln zwar nicht mehr - aber den Paradigmenwechsel von der Institution | |
zum Kind haben sie nicht mitbekommen, geschweige denn vollzogen. Sie | |
entlassen jeden fünften Schüler ohne Leseverständnis, sie arbeiten mit | |
frontalen Lehrmethoden, die geradezu prähistorisch sind. Und sie zeigen | |
sich als reformresistent. Das heißt, wir brauchen zugleich eine radikale | |
Kritik der alten Reformpädagogik - und dringend eine neue Reformpädagogik, | |
um verkrustete Schulen für das 21. Jahrhundert fit zu machen. | |
28 Mar 2010 | |
## AUTOREN | |
Christian Füller | |
## TAGS | |
Prügelstrafe | |
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