# taz.de -- Ex-Schüler über Odenwaldschule: "Die Schule war ein Traum" | |
> Die Vorfälle an der Odenwaldschule müssen aufgeklärt werden, auch wenn | |
> die Schule daran kaputtgeht, sagt Marc Tügel vom Verband der Altschüler. | |
> Ihm selbst habe die Zeit an der Schule "das Leben gerettet" | |
Bild: "Der Missbrauch war am Anfang unvorstellbar für mich." | |
taz: Herr Tügel, am Samstag trifft sich der Trägerverein der Odenwaldschule | |
zu einem Krisentreffen. Schon im Vorfeld hat der Altschülerverein die | |
Auswechslung des Vorstandes gefordert. Warum? | |
Marc Tügel: Einige Mitglieder waren schon 1999 im Vorstand, als die ersten | |
Missbrauchsvorwürfe gegen den damaligen Schulleiter Gerold Becker aufkamen. | |
Damals wurde zu wenig getan, es wurde nicht nachgeforscht, ob es noch mehr | |
Opfer gibt und ob noch andere Lehrer involviert waren. Der Trägerverein hat | |
die Situation falsch eingeschätzt, damit hat er der Schule nachhaltig | |
geschadet. Der Vorstand muss deshalb ersetzt werden durch Leute, die über | |
jeden Verdacht erhaben sind, in diese Fälle verwickelt zu sein. | |
Fünf der sieben Vorstandsmitglieder haben vor, zurückzutreten. Reicht das? | |
Die Schulleiterin, Frau Kaufmann, und der Geschäftsleiter, Herr Salijevic, | |
können nicht zurücktreten. Laut Verfassung der Schule sind sie automatisch | |
im Vorstand. Sie müssten also kündigen. Frau Kaufmann wird aber von uns | |
unterstützt. Ich habe den Eindruck, dass sie das Richtige tut, dass sie | |
alles aufklären will. | |
Kann über dieser Aufklärung die Schule auch kaputtgehen? | |
Die Gefahr besteht auf jeden Fall. Viele Eltern werden sich wohl überlegen, | |
ob sie ihre Kinder auf die Odenwaldschule schicken. | |
Muss es auch Veränderungen am Konzept der Schule geben? | |
Es sollten Kontrollmechanismen und Ansprechpartner für die Kinder | |
eingeführt werden, damit so etwas nie wieder geschieht. Aber das alles darf | |
nicht auf Kosten der intensiven Beziehungen zwischen Schülern und | |
Mitarbeitern gehen - denn das ist das Besondere und Schöne an der | |
Odenwaldschule. | |
Durch den Missbrauch ist auch die Reformpädagogik in die Kritik geraten … | |
Sie haben in dieser Schule viele Freiheiten und man hat eine enge Beziehung | |
zu den Lehrern. Die Erziehung zur Selbstständigkeit, das große | |
Mitspracherecht - das habe ich alles ungeheuer positiv in Erinnerung. Aber | |
es sind eben nicht nur Menschen missbraucht worden, sondern auch ein gutes | |
System. | |
Kritiker werfen der Reformpädagogik vor, dass die enge Bindung zu den | |
Lehrern den Missbrauch erleichtert hat. | |
Das mag sein. Trotzdem stehe ich uneingeschränkt hinter ihr. Was kann Ihnen | |
denn Schöneres passieren, als dass Sie Menschen finden, die Vorbilder sind, | |
wo sich ein persönliches Verhältnis bildet? Man kann doch nicht die | |
Möglichkeit, gute und intensive Beziehungen aufzubauen, sofort als | |
Förderung von Missbrauch sehen. | |
Von 1964 bis 1968 waren Sie Schüler an der Odenwaldschule. Wie haben Sie | |
sie erlebt? | |
Ich kam mit 16 auf die Schule, aus einer sehr schwierigen familiären | |
Situation. Dort hat man mir das Leben gerettet, die Schule war ein Traum. | |
Sie hat mir so gut gefallen, dass ich meinen Sohn auch dorthin geschickt | |
habe. Wir hängen beide noch sehr an der Schule, es ist deshalb hart für | |
uns, dass Menschen diese Schule genutzt haben, um Minderjährige zu | |
missbrauchen. | |
Wann haben Sie das erste Mal von den Missbrauchsfällen gehört? | |
Ich habe lang darüber nachgedacht, ob ich da irgendwie geschlafen habe. Die | |
ersten Hinweise habe ich in den 90er-Jahren von meinem Sohn bekommen. | |
Damals hatte ich aber noch nicht das Gefühl, dass etwas wirklich | |
Verwerfliches dahintersteckt. Ich dachte, dass die intensive Beziehung, die | |
Gerold Becker zu Kindern hatte, von manchen missverstanden wurde. Dass da | |
sexuelle Handlungen passiert sind, war jenseits meiner Vorstellungskraft. | |
Gerold Becker hat den mehrfachen Missbrauch bereits zugegeben. Sie kannten | |
ihn persönlich. Wie haben Sie ihn in Erinnerung? | |
Wir hatten einen langen Briefwechsel und eine Freundschaft bis nach meinem | |
Abitur. Er war eine pädagogische Lichtgestalt für mich, ich habe ihn nur | |
positiv in Erinnerung. Der Missbrauch war am Anfang unvorstellbar für mich. | |
Ich habe Gerold Becker verteidigt. Inzwischen weiß ich, dass da etwas | |
Kriminelles passiert ist, aber es war ein großes Problem, das auch mit | |
meiner persönlichen Wahrnehmung in Einklang zu bringen. | |
26 Mar 2010 | |
## AUTOREN | |
Christoph Gurk | |
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