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# taz.de -- Das Schicksal einer Missbrauchten: "Ich war seine Gummipuppe"
> Warum viele Missbrauchsopfer erst Jahrzehnte später reden können: Rita
> Segbers wurde als Baby von der Mutter an Freier vermietet, als
> traumatisiertes Kind vom Therapeuten vergewaltigt.
Bild: Rita Segbers hat hartnäckig geschwiegen, im Heim, in der Therapie. Schwe…
Therapie? Nein. Wenn etwas klar war, dann das: nie mehr Therapie. Über 30
Jahre lang war das ihr Mantra. Therapie hat Rita Segbers* genug gehabt. Bei
Dieter Meine*. Der war Kindertherapeut in ihrem Heim, irgendwo im Süden
Deutschlands. Und sie war ein schwer traumatisiertes Kind. Ihre Mutter
hatte Rita als Baby an Freier "vermietet". Das Jugendamt holte sie heraus:
Krankenhaus, Heim, Pflegefamilie. Die Familie ist mit ihren Wutausbrüchen
überfordert, mit dem Stehlen, mit den Folgeschäden ihrer Traumata. Mit
sieben ist sie wieder im Heim. Damals, Ende der Sechziger, hat sie
hartnäckig geschwiegen, im Heim, in der Therapie. Schweigen ist ihr Schutz.
Auch zu Dieter Meines Taten hat sie Jahrzehnte geschwiegen.
Heute ist sie über 50 und will reden. Über die lange Zeit des Schweigens.
Die Zeit, in der ihr Therapeut sie missbraucht hat.
Rita Segbers ist Kinderpflegerin von Beruf, sie ist hager mit hellgrauem,
kurzem Haar. Um den Hals trägt sie ein Band mit einem schönen Stückchen
Wurzelholz, in einer heilpädagogischen Tagesstätte kann man sie sich gut
vorstellen. Aber dort arbeitet sie schon lange nicht mehr. Nicht mehr mit
Kindern. Sie ist jetzt arbeitslos.
Dieter Meine war groß, bärtig und väterlich, ein gläubiger Christ, der sich
der achtjährigen Rita annahm. Sie galt als extrem schwierig: Hospitalismus,
Selbstverletzungen, Borderline wurden diagnostiziert und eine
manisch-depressive Störung. Und vor allem eine große Weigerung. "Ich hab
nie was gesagt." Zu den Gruppengesprächen ist sie nicht gegangen. Auch in
der Einzeltherapie schwieg sie. Meine machte mit ihr in den Therapiestunden
psychologische Tests, und dann spielten sie Schach. Sie wollte einfach
nicht reden. Warum? Rita Segbers schweigt. "Das war einfach so", sagt sie
dann.
Mit 16 macht sie eine Ausbildung zur Kinderpflegerin. Die praktische
Erfahrung soll sie in Meines Familie sammeln. Sie beaufsichtigt die Kinder,
führt den Hund aus, hilft im Haushalt. Die Kinder kommandieren sie herum,
sie ist ja nur das Heimkind. Sie liebt den Hund. Sie sitzt bei Meines im
Wohnzimmer und stopft für den väterlichen Therapeuten die Pfeife, fühlt
sich ein bisschen geborgen. Eines Abends nach dem Fernsehen nimmt Meine
ihre Hand und führt sie in seine Hose.
Rita ist sprachlos. "Entwicklungsmäßig war ich wie eine 12-Jährige",
versucht sie ihr Erstarren zu erklären. "Ich spielte noch mit Puppen. Ich
war überhaupt nicht aufgeklärt. Ich dachte: Muss ich da jetzt etwas lernen
oder was?" Paralysiert sei sie gewesen, als der Mann sich mit ihrer Hand
befriedigt, zum Schluss stellt er fest: "Das war schön." Sie sagt nichts,
wie immer.
Der väterliche Freund. Die Pfeife. Der Hund. Der Einzige, den sie hat. Ihre
Mitschülerinnen in der Ausbildung mögen sie nicht, sie ist Außenseiterin
mit ihrer komischen Art. Im Heim "haben alle auf mir rumgehackt". Nur Meine
ist da, der es "schön" findet, was er mit ihr macht. Wenig später
vergewaltigt er sie zum ersten Mal. Sie wehrt sich nicht. Sie erstarrt
stattdessen. Es passiert dann immer wieder. Sie ist ja fast immer bei ihm.
Arbeitet in seinem Haus. Er sorgt dafür, dass sie zu ihnen zieht. Seine
Frau ist dagegen, sie ahnt, dass da etwas Komisches im Gang ist. Aber mehr
tut sie nicht. Er nimmt Rita im Auto mit zu seinem Kontrollanalytiker, zu
dem er noch regelmäßig fährt. Und vergewaltigt sie im Auto.
Meine kennt ihre Jugendamtsakte. Rita kennt sie nicht. Meine offenbart ihr,
dass ihre Mutter sie als Baby verkaufte. Dass die Mutter Prostituierte sei.
"Das ist vererbbar, das hast du auch im Blut", erschreckt er das Mädchen.
"Ich zeige dir, was man mit Prostituierten macht. Damit du weißt, wovor du
dich hüten musst." Damit beginnt eine Serie des Sadismus. Der Hund kommt
darin vor. Ein Pfannenstiel. Blut. Und eine Rita, die zu erkennen meint,
dass ihre Mutter ihr einen "Nuttennamen" gegeben hat. Hat sie das im Blut?
Ist sie damit schon schuldig geboren? "Manchmal hat er dann mit so einer
Engelsstimme mit mir geredet, gerade wenn er mir wehtat. Ich glaube, er hat
sich dann fast für Gott gehalten." Er stellt seine "Behandlung" als
Therapie dar.
Warum hat sie das mitgemacht? "Das können Sie nicht verstehen, das weiß ich
schon." Sie ringt nach Worten. "Ich habe gehungert nach Zuwendung. Jede Art
der Zuwendung, ob Schläge, Vergewaltigung, das war für mich
überlebensnotwendig. Wie Essen." Wenn Säuglinge keine Zuwendung bekommen,
dann sterben sie, erklärt sie. So existenziell war der Hunger. Sie fühlt
immer weniger. Ist innerlich nicht mehr anwesend. "Ich war seine
Gummipuppe", sagt sie. "Ich mache dich fühlend", sagt der Therapeut und
schleift sie an den Haaren durch die Wohnung. Nur leise soll sie sein, weil
die Kinder schlafen.
Sie klaut den Wein aus dem Keller, betrinkt sich. Sie isst nicht mehr. Sie
schlägt ihren Kopf gegen die Wand. Sie fingert mit Schraubenziehern in den
Steckdosen herum, stellt sich extra auf einen nassen Lappen. "Ich kriegte
eine gewischt, aber sonst nix", sagt sie mit schiefem Lächeln. Der
Therapeut besorgt ihr Psychopharmaka, Valium. Dann wird sie schwanger.
Plötzlich droht alles aufzufliegen, für eine Abtreibung müsste das
Jugendamt informiert werden. Meine übernimmt die Vormundschaft und
unterschreibt den Zettel selbst. Ab nach Holland.
Jetzt ist sie ganz in seiner Hand. Sie versucht, sich eine andere
Ausbildungsstelle in Hamburg zu organisieren, als Tierpflegerin. Der
Vormund telefoniert mit der Stelle und sagt ihr: "Die wollen dich nicht,
die haben abgesagt."
Als sie 20 ist, hört es auf. Meine verlässt seine Frau, zieht mit der neuen
Freundin weg, wird selbstständiger Kinderpsychologe. Seinem Opfer hatte er
noch eine Stelle in einer Tagespflegestätte besorgt. Dort herrscht Rita. 18
Jahre lang. Ihre Wutausbrüche sind gefürchtet. Sie manipuliert die Kinder,
wie Meine es ihr beibrachte: erst an die kurze Leine und dann ab und zu
eine Vergünstigung. Dann sind sie einem ergeben. Die Angestellten wagen es
nicht, sich zu beschweren.
In den Neunzigerjahren gerät Rita Segbers einmal derart in Wut, dass sie
ein Kind zusammenschlägt. Die Anzeige kann sie abwenden, aber sie merkt:
"Ich hätte den totschlagen können". Da war Schluss. Schluss mit den
Kindern. Sie geht putzen. Jetzt versucht sie, mit Leuten aus ihrem alten
Kinderheim Kontakt aufzunehmen. Habt ihr nichts gemerkt? "Doch, geahnt
schon", gibt ein Mitarbeiter zu, "aber wir haben gedacht, du würdest
sowieso nichts sagen, wenn wir dich fragen. Du hast doch nie was gesagt."
Und: Sie soll es nicht so schwernehmen, sie käme doch jetzt gut klar im
Leben.
Mehr als 30 Jahre Schweigen. Das ist schwer zu verstehen, aber nicht
ungewöhnlich, sagt eine Mitarbeiterin der Beratungsstelle Wildwasser. Weil
sie schon bedroht wurde, will sie namentlich nicht genannt werden. Die
Täter suchten sich oft Menschen, die schon durch Übergriffe traumatisiert
sind, erklärt sie. "Die Opfer konnten keine klaren Grenzen ausbilden, die
sie gegen andere verteidigen könnten. Sie halten es für normal, dass andere
sie missbrauchen, oft halten sie sich auch für schuldig", sagt die
Sozialpädagogin. Wenn diese kindliche Wahrnehmung nicht korrigiert werde,
dann kapsele sich das Opfer einfach ein: zu schrecklich, um an die
Oberfläche zu gelangen. So komme es, dass viele Missbrauchsopfer erst
Jahrzehnte später anfingen zu sprechen.
Auch Rita Segbers hatte sich eingerichtet in ihrem halben Leben. Keine
Beziehung. Das hat sie mal versucht. Eine Affäre mit einem verheirateten
Mann. Sie hat nicht klarbekommen, was man machen kann und darf und was
nicht. Was sie darf, was er darf. Dass die ganze Affärensituation schon
schuldbeladen ist. Dann hat sie es aufgegeben. Therapie? Nein. Was soll sie
schon von Therapeuten erwarten.
Eines Tages, da war sie bereits über 50, ist Rita Segbers aufgewacht. Als
bei ihrer Freundin so ein selbst ernannter Guru auftauchte, der auch so gut
über alle Bescheid wusste und sie "heilen" wollte. Plötzlich war alles
wieder da. Die Geschichte, aber auch diese manipulative Situation. Rita hat
gemacht, dass sie wegkam. Gegen den Baum fahren. Oder doch Hilfe holen. Sie
findet eine Beraterin, die sich mit Traumata auskennt.
Nach einem halben Jahr Arbeit ist sie so weit, dass sie Meine anzeigen
will. Er praktiziert ja immer noch. Zu spät. Nach fast 40 Jahren ist das
Ganze verjährt. Ob sie eine staatliche Opferentschädigung bekommt, damit
sie ihre Therapie finanzieren kann? Abgelehnt. Sie sei ja schon vor der Tat
psychisch krank gewesen. Da könne man nicht beweisen, dass die Tat sie
krank gemacht habe. "Es ist also wieder mal erlaubt", braust Rita Segbers
jetzt auf: "Es ist erlaubt!" Man ahnt, wie wütend sie werden kann. Aber
mittlerweile richtet sie die Wut an die richtigen Adressen.
Rita Segbers findet die Verjährungsfristen lächerlich. Sie sollten
verlängert werden. Gerade weil sie nicht die Einzige ist, die so lange
schwieg. Die Wildwasser-Mitarbeiterin ist skeptischer: "Solche
Gerichtsprozesse sind mit großen Hoffnungen verknüpft," gibt sie zu
bedenken: "Die Realität sieht dann oft ganz anders aus." Keine Zeugen.
Aussage gegen Aussage. Und eine Klägerin, deren Glaubwürdigkeit in Zweifel
gezogen wird, weil sie psychisch krank ist.
Den Therapeuten, Dieter Meine, hat ihre Beraterin dann wenigstens
angerufen. Kurz vor Weihnachten. Es meldete sich der Anrufbeantworter
seiner neuen Frau, mit der Meine eine Gemeinschaftspraxis hat. Da hat sie
alles draufgesprochen. Es kam keine Reaktion.
Aber Weihnachten, sagt Rita Segbers mit ihrem vorsichtigen Grinsen,
Weihnachten war für die gelaufen.
*Namen und Orte geändert
24 Mar 2010
## AUTOREN
Heide Oestreich
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