# taz.de -- Die Verirrungen deutscher Reformpädagogik: Von Athen in den Odenwa… | |
> Die Verklärung des antiken Athen und die Überhöhung des deutschen | |
> Wandervogels: Ein Essay über den platonischen Weg der deutschen | |
> Reformpädagogik | |
Bild: Auf dem Hohen Meißner fand die Jahrhundertfeier der deutschen Jugendbewe… | |
Der evangelische Theologe Gerold Becker, langjähriger Leiter der | |
Odenwaldschule, hat sexuelle Übergriffe nicht nur gedeckt, sondern aus | |
leitender Position heraus aktiv begangen. Wie bei katholischen | |
Einrichtungen ist zu fragen, ob es sich dabei "nur" um eine zufällige | |
Konstellation oder einen systematischen Effekt handelt. | |
Hinweise auf einen systematischen Effekt liegen vor: In seiner glänzenden | |
Studie über die Gruppe um den Dichter Stefan George, "Kreis ohne Meister", | |
hat der Literaturwissenschaftler Ulrich Raulff angedeutet, dass einer der | |
Urheber der bundesdeutschen Bildungsreform, Hellmut Becker, diese Reform | |
aus dem Geist der Reformpädagogik heraus initiiert habe. Hellmut Becker - | |
den deutschen Landerziehungsheimen eng verbunden, mit Gerold Becker jedoch | |
weder verwandt noch verschwägert - wurde als Sohn des letzten preußischen | |
Kultusministers 1913 geboren, trat 1937 in die NSDAP ein, verteidigte nach | |
dem Krieg den wegen Judendeportationen angeklagten Diplomaten Ernst von | |
Weizsäcker, wurde dann Präsident des Deutschen Volkshochschulverbandes, um | |
1963 erster Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung zu | |
werden. Raulff urteilt: "Die Erziehung der Bildungsreformer war ein durch | |
und durch elitäres Projekt, ersonnen von sendungsbewussten Angehörigen der | |
Eliten, die für die Massen und massengerecht zu handeln meinten, während | |
sie in Wahrheit an Chiron und Achill dachten und Ideen generalisierten, die | |
großenteils aus der Reformschulbewegung stammten." | |
Tatsächlich: Die deutsche Reformpädagogik hatte ihre eigene Ideologie. | |
Einer ihrer Pfeiler war die Verklärung des antiken Athen, zumal Platons | |
Gedanken zum (pädagogischen) Eros im Dialog "Das Gastmahl". Noch vor Kurzem | |
erst bestand der Nestor der deutschen Reformpädagogik, Hartmut von Hentig, | |
darauf, dass die Zuneigung des Erziehers zum Zögling "eine Form der | |
persönlichen Liebe" und "unsere aufgeklärte Gesellschaft in dieser Hinsicht | |
kleinmütig" sei. | |
Doch bevor dem deutschen Weg der Reformpädagogik nachgegangen wird, ist zu | |
klären, was "Reformpädagogik" überhaupt ist. Ihre Prinzipien sind schnell | |
genannt: ein Lernen, das dem Zeitempfinden, den motorischen und | |
spielerischen Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen entspricht; eine | |
Bildung, die das künstlerische Ausdrucks- und Empfindungsvermögen ebenso | |
fördert wie sprachliche und kognitive Fähigkeiten; Lernräume und -orte, die | |
nach außen geschützt und nach innen durch einen starken emotionalen | |
Zusammenhalt zwischen Pädagogen und Schülern gekennzeichnet sind. | |
Indes: Pädagogische Prinzipien fallen nicht vom Himmel. Sie entstehen in | |
bestimmten gesellschaftlichen Lagen und werden von Menschen in ihrer | |
Lebensgeschichte verwirklicht. Die moderne Reformpädagogik wurzelt in der | |
Kulturkritik. Vor dem Hintergrund romantischer Ideen vom Kind, wie sie von | |
Friedrich Fröbel und dem Maler Philipp Otto Runge entworfen wurden, beginnt | |
das zwanzigste Jahrhundert mit einem publizistischen Paukenschlag hier und | |
einem zunächst kaum bemerkten Ereignis dort. 1900 legte die schwedische | |
Autorin Ellen Key ihr von Friedrich Nietzsches Geist getragenes Buch "Das | |
Jahrhundert des Kindes" vor, in dem sie nicht nur eine "Pädagogik vom | |
Kinde" aus, sondern auch das Recht von Kindern auf gesunde und glückliche | |
Eltern postulierte. Eine Forderung, die die Pazifistin und Feministin auf | |
die Abwege eugenischer Politik führte: Nur physisch und psychisch gesunden | |
Eltern sollte es gestattet sein, sich fortzupflanzen. Drei Jahre zuvor, | |
1896, war an einem Gymnasium im bürgerlichen Berlin-Steglitz ein | |
Stenografielehrer auf die harmlos anmutende Idee gekommen, mit Schülern | |
Fußwanderungen durch die Wälder rings um Berlin zu unternehmen. Ein | |
Unterfangen, das zur Initialzündung für die weltweit stilbildende deutsche | |
Jugendbewegung wurde - zunächst des "Wandervogels", dann, nach dem Ersten | |
Weltkrieg, der militarisierten "Bündischen Jugend". | |
Um die Attraktivität des Jugendwanderns zu verstehen, muss man sich die | |
bedrückte Lage junger Männer jener Zeit verdeutlichen. Von bürgerlichen | |
Konventionen eingeschnürt, von Leistungsdruck beschwert und im Erleben | |
ihrer Sexualität verängstigt, suchten sie nach Freiräumen, die sie in der | |
freien Natur und Gruppen Gleichaltriger fanden. Die Literatur dieser Zeit, | |
angefangen bei Thomas Manns "Buddenbrooks" über Hermann Hesses "Unterm Rad" | |
bis zu Frank Wedekinds "Frühlings Erwachen" oder Franz Werfels | |
"Abiturientag", bezeugt dies Elend eindrücklich. | |
Die Reformpädagogik erwies sich zunächst als Ausdruck eines Unbehagens an | |
seelenlosen, kasernenartigen Schulen, dann aber als Inbegriff einer | |
Hoffnung: darauf, durch Erziehung einen neuen Menschen schaffen zu können, | |
und zwar so, dass das Neue, das jedem Kind innewohnt, vor dem Zugriff der | |
Mächte von Großstadt, Staat und Wirtschaft geschützt und in seiner | |
Entwicklung gefördert wird. | |
Doch nicht nur die Jugend, eine weitere Gruppe des wilhelminischen | |
Bildungsbürgertums stand unter Druck: Die Gesellschaft des Kaiserreichs | |
verfolgte männliche Homosexualität. Wenig war im Zeitalter des Militarismus | |
so verpönt wie "Triebhaftigkeit", weshalb ein offenes Ausleben | |
homosexueller Wünsche undenkbar war. Wollte man sich zur Homosexualität | |
bekennen, musste man ihr einen besonderen erzieherischen und | |
kulturbildenden Wert zuschreiben. | |
2009 erinnerte Ang Lees Film "Making Woodstock" an ein Ereignis, das wie | |
kein anderes die populäre Kultur der 1970er-Jahre, ihre Musik, ihre | |
Kleidung und den Widerstand gegen den Vietnamkrieg prägen sollte. Viele | |
Jahre früher, 1913, fand hoch über der Werra, auf dem Hohen Meißner, ein | |
ähnlich bahnbrechendes Treffen statt: die Jahrhundertfeier der deutschen | |
Jugendbewegung zum Sieg Preußens und seiner Verbündeten über Napoleon in | |
Leipzig - entschiedener Kontrapunkt zu den militaristischen | |
Gedenkveranstaltungen des Reiches. Die auf dem Hohen Meißner zu sich | |
findende Jugendbewegung wurde zwar von Jugendlichen getragen, war jedoch | |
von Männern erfunden, die ihre pädagogischen, ihre politisch-erotischen | |
Utopien auf die Jugend projizierten. Zu nennen sind vor allem die zwischen | |
1868 und 1888, den Jahren der Formation des deutschen Nationalstaats, | |
geborenen pädagogischen Intellektuellen Gustav Wyneken, Hans Blüher, | |
Hermann Lietz, Paul Geheeb und Kurt Hahn. Gustav Wyneken, er gründete 1906 | |
die "Freie Schulgemeinde Wickersdorf", war etwa entscheidend an der | |
Formulierung der 1913 verkündeten kulturrevolutionären "Meißner-Formel" | |
beteiligt: "Die Freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung, vor | |
eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für | |
diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein." | |
1920 wurde der bekennend bisexuelle Gustav Wyneken seines Amtes als Leiter | |
von Wickersdorf enthoben, weil er sexueller Kontakte mit zwei Schülern | |
überführt wurde. | |
Wyneken stand nicht allein. Als Vorkämpfer einer fehlgeleiteten Form | |
homosexueller Emanzipation ist Hans Blüher zu nennen, ein früher | |
Sympathisant und Deuter der Wandervogelbewegung. Der Antisemit und | |
Frauenfeind Blüher verfasste 1912 als einer der wenigen Leser Sigmund | |
Freuds in völkischen Kreisen die Schrift "Der deutsche Wandervogel als | |
erotisches Phänomen", um 1917 in einem weiteren Buch unter Hinweis auf das | |
antike Griechenland zu behaupten, dass nur männliche Homosexualität | |
wahrhaft kulturbildend sei. "Der mannmännliche Eros nämlich beruht auf der | |
Gleichberechtigung, der mannweibliche auf Unterwerfung. […] Diese tiefste | |
Intimität des Weibes - ich meine das Verlangen, vergewaltigt zu werden - | |
wird natürlich von der Ethik verdrängt, aber dadurch wird der Tatbestand | |
nicht aufgehoben. Er wirft vielmehr ein Licht auf Dinge wie | |
Frauenstimmrecht, Frauenbewegung, Mutterrecht, Frauenstaaten, die so, wie | |
sie gewöhnlich gesehen werden, unhaltbar sind." | |
Weniger am Eros denn an der Ertüchtigung des Volkskörpers war der Gründer | |
des Landerziehungsheims Haubinda, Hermann Lietz, ein geistiger Nachfahr des | |
Turnvaters Jahn, interessiert. Als Anhänger des Antisemiten Paul de Lagarde | |
setzte sich Lietz nicht nur für eine Lösung der "Rassenfrage" ein, sondern | |
ließ 1919 aus Genugtuung über die Ermordung Rosa Luxemburgs die Flaggen | |
über dem von ihm geleiteten Heim hissen. Noch 1996 berief sich Gerold | |
Becker auf Hermann Lietz, der Lehrer als Freunde und Kameraden der Schüler | |
verstehen wollte. | |
Anders als Blüher und Lietz agierte der einer jüdischen Familie | |
entstammende Protestant Kurt Hahn, der sich nicht von Platons "Gastmahl", | |
sondern von dessen Staatsidee inspirieren ließ. Das von ihm 1920 gegründete | |
Internat Schloss Salem sollte folgenden Prinzipien folgen: "1. Gebt den | |
Kindern Gelegenheit, sich selbst zu entdecken. 2. Lasst die Kinder Triumph | |
und Niederlage erleben. 3. Gebt den Kindern Gelegenheit zur Selbsthingabe | |
an die gemeinsame Sache. 4. Sorgt für Zeiten der Stille. 5. Übt die | |
Phantasie. 6. Lasst Wettkämpfe eine wichtige, aber keine vorherrschende | |
Rolle spielen. 7. Erlöst die Söhne und Töchter reicher und mächtiger Eltern | |
von dem entnervenden Gefühl der Privilegiertheit." | |
Doch auch Hahn entging der Dialektik des pädagogischen Eros nicht: Zwei | |
Söhne Thomas Manns besuchten reformpädagogische Landerziehungsheime. Klaus | |
Manns Aufenthalt in der Odenwaldschule, die er im Streit mit deren Gründer, | |
Paul Geheeb, verließ, ist inzwischen bekannt. Minder bekannt ist, dass | |
Thomas Manns ungeliebter Sohn Golo im Alter von 14 Jahren in Schloss Salem | |
war, dort seine Homosexualität entdeckte und deshalb von Kurt Hahn an einen | |
Psychiater verwiesen wurde - eine Empfehlung, die Hahn umgehend Thomas Mann | |
mitteilte. Inzwischen will die Forschung herausgefunden haben, dass Hahn | |
selbst homosexuell war, diese Neigung aber, anders als Golo Manns Vater, | |
bei sich bekämpfte. | |
Folgt nun aus dieser sehr deutschen Geschichte, die vor allem einen | |
missglückten Ausweg aus der sexuellen Repression des Kaiserreiches | |
nachzeichnet, dass "die Reformpädagogik" notwendig männerbündisch, | |
antidemokratisch sowie gemeinschaftsselig ist und daher strukturell | |
Übergriffe befördert? Gewiss nicht! Und zwar, weil bislang weder | |
Reformpädagoginnen wie Maria Montessori oder Minna Specht erwähnt wurden | |
noch die demokratische Reformpädagogik John Deweys in den USA zur Sprache | |
kam. | |
Dass die sexuellen Übergriffe in der Odenwaldschule den besten Intentionen | |
der Reformpädagogik, wo sie auf der Höhe ihres Gedankens ist, | |
widersprechen, bezeugen Leben und Werk von Janusz Korczak, dessen Pädagogik | |
als oberstes Prinzip "Das Recht des Kindes auf Achtung" kennt und der der | |
Frage, wie man ein Kind lieben soll, ein ganzes Buch widmete. Korczak, der | |
im Warschau der Zwischenkriegszeit ein jüdisches Waisenhaus führte, | |
begleitete in letzter Wahrhaftigkeit die von ihm betreuten Kinder 1942 nach | |
Treblinka. | |
15 Mar 2010 | |
## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
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