# taz.de -- Missbrauch an Odenwaldschule: Aufarbeitung zwischen Bio und Mathe | |
> Über das Ausmaß des Missbrauchs sind Schüler der reformpädagogischen | |
> Odenwaldschule geschockt. Dennoch ist das alles für sie Vergangenheit. | |
> Ein Besuch. | |
Bild: Von den Missbrauchsvorwürfen wollen die älteren Schüler der Odenwaldsc… | |
Christoph T. (20) ist ein guter Ratgeber. "Nicht mehr zu viel lernen", vor | |
allem nicht auf den allerletzten Drücker, empfiehlt er. Am nächsten Tag | |
beginnen die einwöchigen Abiturprüfungen, für ihn "mit Bio, zum Schluss, am | |
Freitag drauf ist Mathe dran". An diesem Donnerstag aber ist | |
Pressekonferenz angesagt in der Odenwaldschule in Ober-Hambach an der | |
südhessischen Bergstraße. Die Schulleitung will über den neuesten Stand der | |
Missbrauchsfälle informieren. | |
Christoph T. ist ein ruhiger, junger Mann, schlank, kurze dunkle Haare, | |
adretter blauer Pullover mit V-Ausschnitt, das Hemd ein paar Töne heller, | |
die Jeans nicht gerade frisch aus der Wäsche. Ob er nicht etwas zu alt ist | |
für einen Abiturienten? Na ja, sagt er und zieht die Augenbrauen noch ein | |
Stückchen höher, eine Klasse habe er wiederholen müssen. Da ist er nicht | |
der Einzige hier. Die Odenwaldschule ist eben nicht nur Eliteinternat, | |
sondern manchmal letzte Zuflucht für gestresste Eltern und das Jugendamt. | |
Christoph T. überlegt noch, was er studieren will. Politik, | |
Wirtschaftswissenschaft vielleicht, auch Journalismus "ist eine Option". | |
Schon jetzt redet er wie ein Pressesprecher, vorsichtig und überlegt. Von | |
den Missbrauchsvorwürfen hätten die älteren Schüler längst gewusst; die | |
Berichte im Unterricht gelesen und darüber diskutiert. Er kannte sie | |
bereits, als er vor fünf Jahren auf die Schule kam: "Nur das Ausmaß war | |
bisher unklar." Der eigens eingerichtete "Ausschuss gegen sexualisierte | |
Gewalt" sei ein guter Schutz: "Der wird aktiv, wenn…" - Christoph T. | |
überlegt und holpert diplomatisch: "Dieser Ausschuss ist ein Ausschuss, der | |
dann in Kraft tritt, wenn ein Schüler zu dem Ausschuss geht und sagt, er | |
habe ein Problem." Wie bitte? | |
Christoph T. beginnt von vorn: Bisher sei das Gremium nur "wegen | |
Kleinigkeiten", vor allem Konflikten der Schüler untereinander, bemüht | |
worden. Anonyme Vorwürfe im Internet, dass es auch heute noch an der Schule | |
Drogen- und Alkoholexesse und Waffenhandel gebe, weist er zurück: "Davon | |
haben wir jedenfalls nichts bemerkt!" | |
Klar, dass Schüler Alkohol "wie an vielen anderen Schule auch manchmal als | |
Herausforderung sehen". Aber alles andere seien bösartige Gerüchte. Er | |
stehe zum reformpädagogischen Konzept der Schule. Er und seine Mitschüler | |
sind gerne bereit, Gäste durch ihre Schule zu führen, wenn nur der | |
Unterricht, vor allem "bei den Kleinen", nicht gestört und die Privatsphäre | |
der 29 Wohngruppen von Lehrern und Schülern respektiert werde. Die | |
Odenwaldschule, betont er immer wieder, sei "Super-Ort zum Lernen, um im | |
Sommer mit einem Mathebuch auf der Wiese zu liegen". Nur ein wenig | |
"abgeschottet von der Außenwelt" sei sie, räumt er ein. | |
Abgelegen ist die Schule tatsächlich. Die Anfahrt schlängelt sich über fünf | |
Kilometer durch das Hambachtal, keine Bushaltestelle weit und breit, dafür | |
viel Natur. Die 36 Häuser der Schule liegen verstreut auf einem Hügelhang. | |
Die Regeln sind streng, Privatautos für Schüler verboten. Wer einen | |
Führerschein hat, muss sich vom Schlossermeister noch einmal bei einer | |
Probefahrt testen lassen. Dann darf er sich - mit Voranmeldung und "guten | |
Gründen" - einen der beiden Kleinbusse ausleihen. Für ein Ruftaxi reicht | |
das Taschengeld nur manchmal. Es ist nach Altersstufen gestaffelt und | |
beträgt monatlich höchstens 50 Euro. Geld von zu Hause darf nicht | |
mitgebracht werden. | |
Außerdem gilt: keine eigenen Fernseher, für Schüler der Unterstufe keine | |
eigenen Computer, und für alle "keine Musik auf den Ohren, weil das die | |
Kommunikationsfähigkeit einschränkt". Auch Handys sind nicht gerne gesehen. | |
Geraucht werden darf nur im Blockhaus, dort darf, aber nur samstags, auch | |
Bier getrunken werden, Weinkonsum erfordert eine Sondergenehmigung, Schnaps | |
ist verboten. Die Speisenkarte liest sich auch nicht gerade wie die einer | |
Nobelherberge: Kartoffel-Hackfleisch-Gratin, Rührei mit Spinat, | |
Nudelauflauf. | |
"Treppensteigen muss man hier können", warnt Jan H. (20), der nach fünf | |
Jahren an der Odenwaldschule in diesem Jahr ebenfalls sein Abitur macht, | |
vor dem Rundgang. Seit der Reformpädagoge Paul Geheeb das Heim 1910 | |
gründete, ist viel gebaut worden, auch von namhaften Architekten. Altes | |
mischt sich harmonisch mit Neuem, heimischer Sandstein, Holz, Schindeln. | |
Das "Baumhaus", rund um einen Baum errichtet, steht auf Stelzen und hängt | |
wie ein Vogelnest über dem Berg. Es soll, weiß Jans Mitschüler Martin D. | |
(21), "die Einheit von Landschaft und Wohnen symbolisieren". | |
Manche der Gebäude scheinen aus den Felsen herausgewachsen zu sein, die | |
neue Sporthalle aus Holz und Glas nimmt den Verlauf des Bergrückens auf. | |
Überall wird gebaut und gegraben. Ein Festplatz entsteht, ein neuer | |
Parkplatz auch. Alles sollte eigentlich glänzen für die unbeschwerte | |
Festwoche zum 100-jährigen Jubiläum des Internats im Juli. Stattdessen will | |
man nun das Programm umgestalten und die Missbrauchsfälle zu einem der | |
zentralen Themen machen. Allerdings, sagt Jan H., sei die Debatte darüber | |
bei den über 200 Schülern, davon etwa ein Drittel Mädchen und Frauen, | |
"nicht gerade das allergrößte Gesprächsthema". Manche fürchteten sich vor | |
den großen Kameras, die die Schule seit Tagen belagern. "Vor allem die | |
Kleinen wirken genervt." | |
Martin D. findet die Vorwürfe "natürlich erschreckend", habe sie aber schon | |
vor vier Jahren bei seiner Einschulung gekannt: "Das ist Teil der | |
Geschichte." Die Behauptung, dass es heute Exzesse, gleich welcher Art | |
gebe, sei gemein und "absoluter Humbug". Natürlich gibt es kleine Fluchten, | |
die seien aber harmloser Natur, zum Beispiel per Anhalter nach Heppenheim | |
fahren: "Da kann man wenigstens ein bisschen einkaufen beim Schlecker oder | |
so." | |
Die Debatte um die Reformpädagogik finden er und seine Mitschüler | |
ungerecht. Kurssystem, kleine Lerngruppen, individuelle Förderung, die | |
Möglichkeit, parallel eine praktische Berufsausbildung zu bekommen, seien | |
"einmalige Chancen, die wir an den staatlichen Schulen nie bekommen | |
hätten". | |
Auch die Eltern, sagen die beiden unisono, unterstützten die Schulleitung. | |
Abmeldungen oder Rückzüge vor Beginn des neuen Schuljahres, bestätigt | |
Direktorin Margarita Kaufmann, habe es bisher nicht gegeben. Es müsse aber | |
dringend aufgearbeitet werden, was da zwischen 1966 und 2003 geschehen ist. | |
Zu Beginn der Pressekonferenz drängen sich die Schüler auf den hinteren | |
Plätzen und am Eingang oder im Fernsehraum. Der Hessische Rundfunk | |
überträgt die Veranstaltung live. Christoph T. hat einen Platz an der Tür | |
ergattert. Er steht ganz still, mit ernstem Gesicht, nur die Finger wippen. | |
Schulleiterin Margarita Kaufmann berichtet lange von den Missbrauchsfällen, | |
von den Betroffenen, die in den letzten drei Tagen angerufen haben. Sie | |
berichtet auch, dass Gespräche mit ersten Betroffenen 2009 filmisch | |
dokumentiert und Redaktionen angeboten worden seien, damals das Thema aber | |
kein Interesse gefunden habe. Sie erzählt von dem zehnjährigen Mädchen, das | |
vom von ihr verehrten Musiklehrer mit dem Vorwand, Zusatzübungen für eine | |
Schallplattenaufnahme seien nötig, in dessen Wohnräume gelockt worden war. | |
Sie musste "sich nackt ausziehen und wurde gestreichelt, auch im | |
Intimbereich". Oder von dem Jungen, der sich darauf freute, einmal pro | |
Woche zu Hause anrufen zu dürfen: "Nach den Anrufen war er immer ganz | |
traurig." Das Telefon stand im Schlafzimmer eines Lehrers. Auch dieser | |
Junge musste sich ausziehen, wurde angefasst, der Lehrer onanierte. Einmal | |
soll es zur "Belohnung" auch neue Turnschuhe gegeben haben. Bei ihrer | |
Schilderung ringt sie immer wieder mit Tränen in den Augen um Fassung. | |
Nur einmal wird sie etwas ungehalten - nämlich als die Vorsitzende des | |
Elternbeirats, Gabriele Vetter, rät, die Vergangenheit ruhen zu lassen: | |
"Wir müssen den Blick nach vorne richten!", sagt Vetter - ähnlich | |
formuliert es Schülersprecher Max Priebe: Dem Leid der Opfer müsse Rechnung | |
getragen werden, aber auch die Zukunft sei wichtig: "Ich schreibe morgen | |
eine Bio-Klausur." Aufarbeitung, betont Schulleiterin Kaufmann hingegen, | |
sei unumgänglich, das wisse sie aus ihrer Beschäftigung mit dem Holocaust. | |
Dass so etwas, sagt Christoph T. "hier möglich gewesen ist, kann ich ich | |
mir heute nicht vorzustellen". Es ist das Ausmaß, das ihm zu schaffen | |
macht: bisher acht kriminelle Lehrer - von denen sechs noch leben - und | |
mindestens 33 Missbrauchsopfer - davon ein Drittel Mädchen. Auch die | |
Tatsache, "dass die sich damals nicht getraut haben, darüber zu reden", | |
schockiert Christoph T. Aber er versuche zu verstehen, "dass man da eine | |
innere Angst spürt". Er vertraue aber, ebenso wie seine Eltern, auf die die | |
Zukunft der Odenwaldschule, die doch Faschismus und Krieg überstanden habe: | |
"Wenn die mit solchen Konflikten fertig geworden sind, werden die das auch | |
schaffen." | |
13 Mar 2010 | |
## AUTOREN | |
Heide Platen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Sexuelle Gewalt in Heimen: "Kinder der Sünde" | |
Die Missbrauchs-Debatte ist eine Zwei-Klassen-Diskussion, in der das | |
Schicksal der Heimkinder kaum vorkommt, sagt Erziehungsexperte Manfred | |
Kappeler. Und erklärt, warum das so ist. | |
Umgang mit Missbrauchsfällen: Der Vatikan ist schwer erschüttert | |
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz hat dem Papst über | |
Missbrauchsfälle berichtet. Missbrauch sei aber "nicht nur ein Problem der | |
katholischen Kirche". | |
Kommentar Missbrauchsdebatte: Hinterfragt die Säulenheiligen | |
Die Missbrauchsdebatte, so scheint es, schützt offenbar vor keiner | |
Blödheit. Es ist Zeit, nach ersten personellen Konsequenzen auch | |
strukturelle Fragen zu stellen. |