# taz.de -- Die Zukunft der Musikkritik V: Neue Textformate entwickeln | |
> Wozu noch Popkritik, wenn man sich bei last.fm und Co "selbst ein Urteil | |
> bilden" kann? Mögliche Lösung: Verknüpfungen, Analysen, lange, gut | |
> recherchierte Artikel. Wer wird das bezahlen? | |
Bild: Plattencover (Germfree Adolescents, 1978) der englischen Punkband X-Ray S… | |
Fantastic Man: "Which art form will vanish?" | |
Gilbert & George: "Criticism." | |
Warum nicht die provokante These des Londoner Künstlerduos auf die | |
Popkritik projezieren? Wenn in Zeiten der Fragmentierung, der geöffneten | |
Archive und der Allgegenwart von Meinungsäußerungen im Internet der | |
Eindruck entsteht, dass Popkritiker als Leuchtturmwärter ausgedient haben, | |
dann ist da etwas dran. Nicht zufällig ist es für die Leser von Printmedien | |
ermüdend, heutzutage etwa noch Plattenrezensionen zu lesen - zu eitel und | |
zu wenig analytisch ist das Gros der Texte. | |
Wenn man die ursächlich durch das Internet hervorgerufene Krise der Kritik | |
jedoch als Lauf der Dinge und somit als Chance sieht, weil sich etwas | |
ändert, und wenn man Gilberts & Georges Antwort auf die Frage, welche | |
Kunstform verschwinden wird, zu einem "Die Kritik, wie wir sie kannten" | |
umformuliert - wir wären einen konstruktiven Schritt weitergekommen. | |
Binnen weniger Jahre veränderte sich die Medienbranche (und mit ihr die | |
Kritiker) so radikal wie nie zuvor. Redaktionen wurden ausgedünnt, immer | |
weniger junge Autoren hatten zuständige Redakteure, von denen sie etwas | |
lernen konnten. | |
In Gratismagazinen wurde die Trennschärfe zwischen redaktionellem und | |
gekauftem Inhalt verwischt, dadurch wurden ehedem undiskutierbare | |
Demarkationslinien auch in Kiosktiteln infrage gestellt. Die schiere Masse | |
an Veröffentlichungen wurde zuvor als "neue Unübersichtlichkeit" | |
bezeichnet, auch sie ist ein Problem, und schließlich darf der | |
Gezeitenbruch nicht verschwiegen werden: Wozu noch eine Popkritik, wenn man | |
sich "selbst ein Urteil bilden" kann, indem man die Musik auf Last-FM, auf | |
YouTube oder als Snippet bei Amazon ohne Umwege hören - oder gleich illegal | |
runterladen kann? | |
Die Lösung des Dilemmas liegt in der Beantwortung genau dieser Frage. Dem | |
arbiträren Musikhören (sprich: Miles Davis ist auf meiner | |
Terabyte-Festplatte unter "M" wie "Miles" abgespeichert, aber nicht in | |
unsichtbarer Verknüpfung mit Joe Zawinul, Herbie Hancock und Wayne Shorter | |
als Erneuerer des Jazz) kann Popkritik mit der Vermittlung von Erkenntnis | |
und dem Angebot von Verknüpfungen begegnen. | |
Anders als im Internet, das erkenntnisfixiert ist in lediglich dem Maße, | |
wie der User es zulässt, ist die Kritik im Printmagazin für den Leser | |
gefiltert und editiert. Nur: Wie kann der Vertrauensvorschuss, den | |
Popkritiker benötigen, um als erkenntnisstiftende Instanz respektiert zu | |
werden, wiederhergestellt werden? | |
Sie müssen thesenstarke Einordnungen des besprochenen Phänomens liefern. Es | |
muss ihnen gelingen, das Objekt der Begierde, also im konkreten Falle: die | |
Musik, vor dem inneren Auge der Leser aufleben zu lassen. Sie dürfen sich | |
keiner wiederkehrenden Schemata bedienen. Sie müssen in kritischer, | |
informierter Distanz zum verhandelten Diskurs stehen. Sie müssen Phänomene | |
wie das der Postökonomie, der digitalen Evolution, der parallelen | |
Entwicklungen in den verwandten Disziplinen kontextualisieren. Sie müssen | |
in einer Sprache schreiben, die die Leser verstehen; und sich | |
zurückzuhalten mit der Thematisierung der eigenen Sprecherpositionen, denn | |
niemanden interessiert der Geschmack der Autoren. | |
In Spex haben wir mit dem "Pop Briefing" den allwissenden Autor als | |
Absender durch eine editierte, orchestrierte Vielstimmigkeit eines | |
Autorenkollektivs ersetzt, das sich gegenseitig befruchtet, korrigiert und | |
interessanterweise viel kritischer mit seinen Subjekten umgeht als die | |
branchenübliche Kuschelkritik zuvor, in der die Kritiker, auch angesichts | |
schlechter Bezahlung, oft den Weg des geringsten Widerstands wählten und | |
über Platten schrieben, die sie ohnehin mochten. | |
Unsere Leser scheinen mit der Auflösung des Über-Autors weit weniger | |
Probleme zu haben als die Autoren der vorangegangenen Folgen dieser Debatte | |
zur Popkritik in der taz. | |
Diedrich Diederichsen, der dieser prismatischen Narration des Pop Briefings | |
kritisch gegenübersteht und sich starke Autorenindividuen wünscht, welche | |
die klassische Plattenkritik zu neuen Höhen führen, warb nach der ersten | |
Ausgabe des Pop Briefings im Januar in der FAS für die Utopie einer | |
popkulturellen Zeitschrift, die ähnlich wie der New Yorker die Vorteile von | |
Print gegenüber dem Internet vereint: Sehr gut bezahlte Autoren schreiben | |
sehr lange, sehr gut recherchierte Artikel. Leider entspricht das nicht der | |
gesellschaftlichen und schon gar nicht der Medienrealität. | |
Seit der Gründung der Spex im September 1980 wurden Zeilenhonorare gezahlt, | |
die im besten Falle (so der Fall heute) denen der taz entsprachen. Die | |
Utopie Diederichsens kann in Spex (oder auch in der taz) nicht ohne | |
weiteres realisiert werden. Gleiches Phänomen, andere Baustelle: Einer der | |
diesjährigen Pulitzer-Preise ging an eine Stiftung, die ihre Autoren sehr | |
gut bezahlt und deren sehr lange Texte von Medien wie der New York Times | |
übernommen werden. | |
Bei Spex betrachten wir die Krise der Popkritik als Aufforderung, neue | |
Textformate zu entwickeln und Debatten zu führen - die sowohl der | |
gedruckten Zeitschrift als auch den Lesern neue Wege aufzeigen. Dann wird | |
auch die Kritik als Kunstform nicht verschwinden. Sie wird sich nur etwas | |
anders lesen. | |
12 May 2010 | |
## AUTOREN | |
Max Dax | |
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