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# taz.de -- Die Zukunft der Musikkritik VI: Für eine Radikalisierung
> Unsere Autorin unterrichtet "Popkultur" an Universitäten. Und stellt
> fest: Pop ist mittlerweile das Allgemeine und muss nicht mehr durch
> Gatekeeper erklärt werden.
Bild: Ex-Riot Grrrl und jetzt auch irgendwie allgemein: Courtney Love.
Ich befinde mich in der Situation, an Universitäten "Popkultur" zu
unterrichten. Als Studentin wäre ich vor 15 Jahren noch vor Freude im
Karree gesprungen, wenn Pop in einem wissenschaftlichen Angebot aufgetaucht
wäre. Heute sitzen meine Studierenden ungefähr genauso enthusiasmiert in
meinen Kursen wie ich damals in der Vorlesung zur englischen Morphologie.
So kann es passieren, dass eine von mir als radikal angepriesene
popkulturelle Strömung wie die der Riot Grrrls in einer Prüfung von einer
Studentin auswendig gelernt heruntergebetet wird. Wenn ich Studierende der
Popkultur frage, wie sie sich über Musik und Musikdiskurse informieren,
kommt als Antwort meist Schweigen, "Internet", manchmal fällt der Name von
Service-orientierten Magazinen großer Verlage. Auch auf Podien zum Thema
Musikkritik bin ich als Jahrgang 73 schon eine der Jüngeren. Neulich wurde
ich in einem Proseminar zum Thema "Third Wave Feminism" von einer Studentin
gefragt, was Popkultur denn eigentlich genau sei - vielleicht eine Epoche?
Pop ist Alltag - alles ist Pop. Zuerst Blair, dann Schröder und jetzt auch
noch die Börse. Inzwischen gibt es ein Magazin namens Business Punk, und
seine Leser hören statt der Sex wahrscheinlich die Dax Pistols, wie
Diedrich Diederichsen amüsiert vermutete. Früher war natürlich nicht alles
besser, aber es ist doch unübersehbar, dass mit der Aufweichung der
Trennlinie zwischen Hoch- und Popkultur ein semantisch-politischer
Paradigmenwechsel einherging. Genau wie mit der Etablierung von
Kulturwissenschaften und der darauf folgenden Institutionalisierung von Pop
in akademischen Kontexten.
Anders als in den 80er-Jahren, als es noch eine subversive Geste sein
konnte, sich in Medien wie der Spex mit popkulturellen Phänomenen
analytisch auseinanderzusetzen, gibt es heute kein Entrinnen mehr - und
daher auch wenig geschärfte Wahrnehmung oder gar ein ausformuliertes
Interesse.
Popkritik ist etwas Entscheidendes abhanden gekommen - nicht das zu
kritisierende Objekt, produziert wird schließlich mehr als je zuvor, wohl
aber das rezipierende Subjekt. Was natürlich nicht heißt, dass sich niemand
mehr für Popkultur interessiert, ganz im Gegenteil. Nur ist Pop
mittlerweile das Allgemeine und nicht mehr in dem Sinne das Besondere, als
dass er durch Gatekeeper diskursfähig gemacht oder erst erklärt werden
müsste.
Dass Formen von Kritik permutieren, ist gut so und innerhalb einer durch
den Markt erzwungenen regelmäßigen Neuerfindung sowieso unumgänglich; dass
etablierte Formen stagnieren, wo es primär um kondensierte Information
geht, ist auch in Ordnung. Statt sich also an dem Fetisch Plattenkritik zu
reiben, erscheint mir eine "Multi-Attribuierung" von Popkritik am
vielversprechendsten.
Das wäre zunächst eine, die gar nicht erst versucht, die Subjektposition
ihrer AutorInnen zu leugnen, sondern sie offen darlegt und im besten Fall
intersubjektiv erfahrbar macht. So ist es auch kein Zufall, dass dieser
Artikel mit "Ich" begonnen hat, aus meinen Erfahrungen in alternativen,
politischen Medienprojekten habe ich gelernt, dass jede Autorin aus einer
ideologischen Subjektposition spricht und dass es im Schreiben darum gehen
muss, diese nicht durch vermeintliche Objektivität zu verschleiern, sondern
sie durch die Offenlegung der eigenen Ideologeme als solche zu enthüllen.
Unter dem Begriff "Multi-Attribuierung" plädiere ich daher für eine
Popkritik, die ihre Deutungen in einen größeren politischen Zusammenhang
stellt und Popphänomene aus klar umrissenen Perspektiven auf Kategorien wie
Gender, Race, Klasse etc. verhandelt und diese auch als solche kenntlich
macht. Genau das versuchen wir seit fast zwei Jahren in der Zeitschrift
Missy Magazine, die sich als Organ für feministische Popkritik versteht und
gerade durch diese Perspektive auch Leserinnen wieder für Popkultur
begeistern kann.
Das Allgemeine und Omnipräsente, das Pop mittlerweile ist, auch noch
allgemein und damit nur vermeintlich universalistisch, dabei aber doch aus
einer hegemonialen, meist männlichen, weißen und heterosexuellen
Perspektive abzuhandeln, ist zum Gähnen.
Vielleicht war die Frage, ob Popkultur eine Epoche sei, angebracht. Recht
hatte die Studentin mit ihrer Vermutung, dass eine Form der Sozialisierung
und Politisierung an und mit Pop zu Ende geht, die für die in den 80er- und
90er-Jahren mit Popkultur Großgewordenen identitätsstiftend war. Diese
Generation hat jedenfalls Mühe, die Debatten um Pop für Jüngere interessant
zu machen.
In Zeiten, in denen Pop zum Allgemeinen und damit tatsächlich zum
"Populären" geworden ist, gibt es dafür keinen dringlichen Bedarf mehr.
Trotzdem birgt im Moment der Omnipräsenz von Popkultur gerade eine
Ausdifferenzierung von Kritik Potenzial für neue radikale Lesarten - ich
freue mich schon auf die neue Generation, die uns mit bis dato undenkbaren
Debattierformen aus dem Dornröschenschlaf reißt.
25 May 2010
## AUTOREN
Sonja Eismann
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