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# taz.de -- Die Zukunft der Musikkritik VIII: Mehr als der Facebook-Daumen
> Blogs können für die Musikkritik das werden, was Punk für den Pop war:
> die Aufhebung der Schranken zwischen LeserInnen und SchreiberInnen.
Bild: Unbekannte Bands anhören – auch das wollen die Leser von Musikblogs.
Das seit gut zweieinhalb Jahren von mir betriebene Popblog [1]["Monarchie
und Alltag"] auf taz.de lässt mich zwischen allen Stühlen Platz nehmen: zu
meiner Rechten die etablierten Feuilletons und Musikmagazine, auf der
anderen Seite privat betriebene Blogs. Zwar wird das taz-Popblog gänzlich
autark, also ohne Rückkoppelung mit der Redaktion betrieben, andererseits
ist die Außenwirkung wohl doch in erster Linie "taz" und nicht "blog".
Daraus ergibt sich aber die schöne Möglichkeit, jenseits der Frontlinien
Blog versus Presse-Establishment Position zu beziehen und die Grenzen auf
der Konfliktlinie Online gegen Print deutlicher zu ziehen. Denn häufiger
Fehler aller kulturpessimistischen Analysen über die Blogkultur ist die
irreführende Annahme, es gäbe nur den einen Typus des Bloggers oder Blogs.
Was schon für Printredaktionen absurd wäre (oder wer setzt etwa gleiche
Erwartungen in ein Süddeutsche-Feuilleton und den "Kultur"-Teil der
Bild-Zeitung?), ist aufgrund der nicht vorhandenen Einstiegsschranken in
das Bloggertum gänzlich abwegig. Es gibt so viele unterschiedliche Blogs
wie Menschen!
Gerade hier bietet sich auch die Chance, den von Sonja Eismann in einer
früheren Folge der Debatte zur Zukunft der Musikkritik postulierten Vorwurf
zu entkräften, dass langweilige Popkritik hauptsächlich aus einer
männlichen, weißen, heterosexuellen Perspektive geschrieben würde. Blogs
können für die Musikkritik das werden, was Punk für den Pop war: die
Aufhebung der Schranken zwischen LeserInnen und SchreiberInnen sowie der
Bruch mit allen diktierten Geschmackskriterien.
Ein viel klareres Unterscheidungskriterium als das zwischen Bloggern und
Redakteuren bieten die benutzten Medien an. Allein aufgrund des täglichen
Klick-und-Häppchentexttrainings im Netz scheint es im Onlinebereich
erheblich schwieriger zu sein, für lange Texte über Bands Leser zu finden.
Während bei den Printmedien gute von Schrottpublikationen schon dadurch
unterscheidbar sind, ob sie sich in ausreichender Tiefe mit einem Thema
beschäftigen, diktiert das Netz Maximallängen. Außerdem ist im Internet
durch die direkte Einbindung von Streams oder Downloads die sofortige
Überprüfung der gerade gelesenen Kritik - zumindest scheinbar - möglich.
Wobei nicht übersehen werden darf: Gerade das kursorische Anhören
verhindert, dass komplexere Sounds überhaupt wahrgenommen werden. Ein
schneller Klick zieht oftmals ein Don't-like nach sich, im Gegensatz zur
ausgiebigen Beschäftigung mit Musik früherer Tage.
Der Musikkritik fällt es auf diese Weise im Onlinebereich immer schwerer,
Allgemeingültigkeit zu erreichen, die über bloßes Anmoderieren des nächsten
großen Dings hinausgeht. "We will never again agree on anything as we
agreed on Elvis", schrieb Lester Bangs bereits 1977 und meinte damals noch,
dass die Zeiten der alle Schranken übertretenden Künstler vorbei seien -
heute liefern sich gerade Musikblogs einen grotesken Wettbewerb, die
jeweils neueste Hypeband zu finden und abzufeiern, bis die Künstler schon
bei der Veröffentlichung ihres Debütalbums nur noch eine Nachricht von
gestern sind.
So steigt aber die Gefahr, dass Musikblogs zu Durchlauferhitzern verkommen.
Andererseits wird auch im taz-Popblog das schmutzige, aber spannende
Spielchen einmal im Jahr in nahezu epischer Breite mitgespielt: Der Januar
gehört vollends Bands, von denen wir glauben, dass sie im folgenden Jahr
gut (oder groß) werden.
Zeit ist die Währung
Doch im Gegensatz zu Musikmagazinen und Feuilletons hat die generell
subjektive Ausrichtung des Blogs auch den Vorteil, ohne weiteres einer
echten Begeisterung zu fröhnen, nur den einen Moment zu feiern und Musik
generell emotionaler zu beurteilen. Gerade das kann ein Zugewinn der
heterogenen Bloglandschaft sein, da sich Feuilletons traditionell, aber
auch rätselhaft schwertun, jungen Bands eine Chance zu geben. Die Angst vor
der falschen Prognose, das Misstrauen gegenüber Hypes schien im
Printbereich schon immer stärker verbreitet zu sein als die Hoffnung auf
Neues, Großes!
Noch sind wir Musikblogger in Deutschland auch viel zu sehr damit
beschäftigt, britische und US-amerikanischen Bands zu beobachten, die die
Kollegen im Mutterland des Pop sowieso schon weit vor uns abgehandelt
haben.
Auf der anderen Seite bieten wir heimischen Bands zu wenig Raum - was
explizit nicht aus einer patriotischen Deutschlandquotenbegründung heraus
missverstanden werden soll und eben gerade auch nicht aus der Gewichtung
"weiß, männlich, heterosexuell". Es zeigt eine Nische, die weder von Blogs
aus anderen Ländern noch vom hiesigen Musikkritik-Establishment besetzt
wird.
Musikkritik reduziert sich hierbei auf eine Dienstleistungsfunktion, die
auch Plattenrezensionen früher hatten: Die Kritik bot den LeserInnen Filter
an, die herausarbeiteten, in welche Musik diese ihr Geld investieren
konnten. In einer Ära der Ubiquität von Musik, die sich mit dem kostenlosen
Streamingdienst Spotify noch weiter verstärken wird, ist es aber nicht mehr
die Investition in einzelne Alben, die sich via Musikkritik begründet,
sondern das Anhören von unbekannten Bands. Die Funktion bleibt die Gleiche,
nur der Einsatz ändert sich. Zeit ist die Währung, nicht mehr das Geld.
Darüber hinaus darf sich die Musikkritik aber nicht auf dieser
Dienstleistungsfunktion ausruhen. Gerade im Netz muss sie Antworten finden,
wie sie entsprechend den Lesegewohnheiten gerechte, komprimierte Texte
präsentiert, die dennoch Diskussionen anstoßen können und über ein
Geschmacksurteil und den Facebook-Daumen hinausgehen.
Dabei auch noch zu vermeiden, in der kleinteiligen Blogosphäre nur vor
einem Spezialistenhäufchen längst Bekehrter in einmütiger Übereinstimmung
zu predigen, dürfte die sogar größere Aufgabe der Musikblogger werden.
22 Jul 2010
## LINKS
[1] http://blogs.taz.de/popblog
## AUTOREN
Christian Ihle
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