# taz.de -- Die Zukunft der Musikkritik: Acht Stunden sind kein Tag | |
> Seit das Magazin "Spex" seine Albenrezensionen abgeschafft hat, ist die | |
> Debatte über den Zustand der Popkritik neu entbrannt. Sie zeigt, die | |
> Kritik lebt noch. | |
Bild: Verbindungen zu gesellschaftlichen Entwicklungen lassen sich auch in Plat… | |
Anfang des Jahres verkündete das zweimonatlich erscheinende Musikmagazin | |
Spex das "Ende der Schallplattenkritik". Seither veröffentlicht das in | |
Berlin erscheinende Blatt statt Plattenrezensionen zu jedem neuen Album | |
jeweils einen fortlaufenden Dialog mehrerer Autoren. Das ist ein guter | |
Anlass, um an die Anfänge vom Ende zu erinnern. | |
Die Behauptung, Plattenkritiken seien nicht mehr zeitgemäß, mag reizvoll | |
klingen. Dabei verhält es sich so, dass für diese Entscheidung wie bereits | |
beim Spex-Umzug von Köln nach Berlin vor vier Jahren wirtschaftliche Gründe | |
ausschlaggebend sind. | |
Die damalige Verkleinerung der Redaktion und die Umstellung auf den | |
Zweimonatsrhythmus waren nicht inhaltlich motiviert, auch wenn das | |
öffentlich anders verkauft wurde. Es macht einen Unterschied, ob im Falle | |
eines Personalwechsels die "neuen Besen" Sachzwänge benennen, um das | |
Optimale daraus zu machen, oder ob sie so tun, als hätten finanzielle | |
Überlegungen bei der Entscheidung nicht im Vordergrund gestanden. So wie | |
mit der Situation 2006 umgegangen wurde, ist es also kaum verwunderlich, | |
dass man jetzt munkelt, hinter der Idee eines die individuelle Beurteilung | |
der Musikkritik ersetzenden, dialogischen "Pop-Briefings" stehe die | |
Absicht, Autorenhonorare für Plattenrezensionen einzusparen. | |
Nun hat die Verklärung der eigenen ökonomischen Situation in dem Feld, in | |
dem wir uns bewegen, Tradition. Der Popkultur wohnt zudem die Utopie inne, | |
es werde irgendwann einmal besser laufen, zumindest für einen persönlich, | |
wenn man auch vorher eine Menge Dreck fressen muss. Lebe deinen Traum! Eine | |
neue Perspektive diesbezüglich eröffnete sich mir im Jahr 2002. Damals | |
sprang ich als Redakteur bei der Kölner Spex ein, wo ich prekäre Arbeits- | |
und Lebensbedingungen am eigenen Leib zu spüren bekam, die in der | |
öffentlichen Wahrnehmung inzwischen das "Medienproletariat" | |
charakterisieren. | |
Die ersehnte Aufhebung der Grenze zwischen Arbeit und Freizeit, eine | |
Existenz jenseits des Achtstundentags, setzte mich umso stärker unter | |
Strom. Ein Duracell-Häschen, das konstant die Trommel sowohl für Produkte | |
der "Kulturindustrie" als auch für die eigene Position rührt. Die | |
unermüdliche Trommelei, dachte ich, könne zudem den Takt für | |
gesellschaftliche Entwicklungen der Lebens- und Arbeitsverhältnisse im | |
Neoliberalismus angeben. Die Erfolgreichen der kreativen Klasse waren in | |
den Legislaturperioden der Regierung Schröder neu entdeckt worden, weil sie | |
eine Selbstständigkeit vorlebten, die der schwindende Wohlfahrtsstaat ihrer | |
Agenda 2010 begrüßte. | |
Diese Umstände erforderten neue Kriterien und andere Formen der Kritik. Das | |
erschien einigen Leuten damals genau so dringlich, wie heute die durch das | |
Internet veränderten Distributions- und Rezeptionsbedingungen die | |
Redaktionen von Printpublikationen beschäftigen. Wir armen Medienschlucker | |
waren nicht damit einverstanden, uns als Prototypen neoliberaler | |
Rollenmodelle einverleiben zu lassen. Spex war von Beginn an eine | |
Ansammlung von starken Individualisten. Während sich viele Kollegen aus dem | |
damaligen Magazinumfeld nur auf Indie-Konzerten oder im Club trafen, | |
verabredeten sich ein paar aus dem Dunstkreis auch auf einer anderen | |
Baustelle. Dort wollten wir das Fundament für ein gemeinsames Vorgehen | |
legen. Wir hatten auch fest vor, nach neuen Möglichkeiten für die | |
Verbreitung unserer Kritik zu suchen. Etwas Besseres als Spex sollte doch | |
möglich sein! Jedoch zerstreute sich der bunt zusammengewürfelte Haufen | |
noch schneller als die Kölner Spex-Redaktion. | |
Festanstellung dank Sozialisation | |
Inzwischen habe ich beim Musikmagazin Intro meine Popsozialisation dank | |
Festanstellung als Redakteur zum Beruf gemacht. Der Prozess meiner | |
Professionalisierung hat mich zur Frage geführt, ob die Möglichkeiten der | |
Popkritik zur Intervention schon immer überschätzt waren und diese | |
Selbstüberschätzung zum Programm gehört. | |
Plattenkritiken waren meine Einstiegsdroge. Ein attraktives Format, das zum | |
Mitreden und Selbermachen einlädt. Von Anbeginn las ich Rezensionen | |
bestimmter Autoren, die mich fast mehr interessierten als die Musik, über | |
die sie schrieben. Diedrich Diederichsens Rezensionssammelband "1500 | |
Schallplatten" lernte ich nahezu auswendig. Die Haltungen, die da | |
eingenommen wurden, gaben mir Rückhalt in Streitigkeiten über Bands und | |
Alben. Anfang der Neunziger erschien mir der Rezensionsteil der Spex als | |
Inbegriff des Pausenhofgezänks. Rezensionen von neuen Schallplatten | |
erschienen mir damals als vielstimmiges Ensemble teils unvereinbarer | |
Positionen. Die zur Schau gestellten Posen hatten eine Grundlage: den | |
Abgleich von Standpunkten, die sich zwingend aus dem Verhältnis von Leben | |
und Popmusik ergaben. | |
Diese oft auch in Kneipen geführten Auseinandersetzungen wollte ich in Spex | |
fortgesetzt lesen, wo Autoren, Redakteure und Leser zwingende Argumente und | |
eindeutige Haltungen schon lange vermissten - ein Phänomen, das sich Mitte | |
der Nullerjahre nicht nur auf das Blatt beschränkte, sondern als sogenannte | |
Krise der Popkritik die Runde machte. Verbindungen zum persönlichen Alltag | |
und gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen galt es in jedem längeren | |
Artikel und auch in den schnelllebigen Plattenkritiken aufzuzeigen. In | |
Plattenkritiken können Autoren ihre eigene Perspektive autonom vertreten, | |
werden aber auch in den Kontext aller anderen Rezensionen gestellt, die das | |
Spektrum von möglichen Zugängen zu Popkritik abbilden: von der euphorischen | |
Verteidigung der Lieblingskünstler aus einer Fanhaltung heraus bis zur | |
distanzierten Analyse. Und es sollten Autoren schreiben, die im Feuilleton | |
niemals hätten schreiben dürfen, weil sie zu unorthodox an die Sache | |
herangingen. | |
Kompromiss mit der Industrie | |
Diedrich Diederichsen plädierte zuletzt in Abgrenzung vom Pop-Briefing der | |
Spex für einen Kompromiss mit der "Kulturindustrie". Er will "gut bezahlte, | |
lange Texte" von Autoren, die jeweils zu den von ihnen bestimmten | |
Zeitpunkten mit fundierten Reflexionen im Veröffentlichungsbetrieb | |
"intervenieren". Aus der Praxis kann ich sagen, dass sich viele Mitarbeiter | |
von unter kommerziellen Bedingungen hergestellten Magazinen diese | |
Argumentation wünschen. Gute Texte führen der Marketingabteilung | |
potenzielle Anzeigenkunden zu. Ebenso wie sie auf "gute Texte", kluge | |
Expertenmeinungen und Nachwuchsautoren hoffen. Ob Diederichsen bei seinem | |
Vorschlag auch anständig honorierte Texte in Betracht zieht, die dem | |
Establishment in den Arsch treten, oder bloß Essays von eingeführten | |
Schreibern meint, die aus einer Art Kaiser-Franz-Position Blitz und Donner | |
über das für ihre "Interventionen" vorgesehene Feld werfen, bleibt unklar. | |
Seine Voraussetzung einer "qualifizierten Langsamkeit" deutet darauf hin, | |
dass er vor allem für sich selber und seinen Erfahrungsschatz spricht. | |
Ende der Selbstüberschätzung | |
Die Zeiten der Selbstüberschätzung der Popkritik könnten vorbei sein. Eine | |
Arena, in der auch diejenigen für sich selber sprechen, die nicht, wie von | |
Diederichsen gefordert, in einer "guten Kritik" Argumente abwägen, sondern | |
zwingend und gehetzt ihre Sache vertreten, muss deshalb meiner Auffassung | |
nach in der Hierarchie gleichberechtigt neben dem Pop-Feuilleton stehen. | |
Sie liegt mir vor allem näher als das Pop-Briefing im Konferenzraumstil, | |
das weitere Autorenmeinungen wegrationalisiert und sich an einer Bündelung | |
von Markenautorität versucht, wo echte Vielstimmigkeit gefragt wäre, die | |
letztlich auch von einem Einzelnen ausgehen kann. Um die ordentliche | |
Bezahlung für "lange Texte" freier Autoren durchzudrücken, bedarf es aber | |
tatsächlich mehr als einer Stimme mit "antikapitalistischer Tiefe". | |
Sobald sich die Kritik formiert, statt nur zu formulieren, könnte man | |
wirklich vom Ende der Popkritik, wie wir sie kannten, reden. | |
30 Mar 2010 | |
## AUTOREN | |
Wolfgang Frömberg | |
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