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# taz.de -- Vorsorge für den Notfall: Patientenverfügungen für Altersheime
> Ärzte, Juristen und Ethiker testen in einem Modellprojekt, wie
> Altenheimbewohner überzeugt werden können, eine Patientenverfügung zu
> erstellen.
Bild: Mit einer Patienten- und Vertreterverfügung sollen die Heimbewohner vors…
HAMBURG taz | Die selbst ernannte "Bundeshauptstadt der Energie" heißt
Grevenbroich und liegt im Rhein-Kreis Neuss. 65.000 Menschen leben hier, am
Rand der größten Braunkohlelagerstätte Europas. In Grevenbroich
wirtschaften aber nicht nur Energie-, sondern auch Gesundheitsunternehmen:
Kreiskrankenhaus, Bereitschafts- und Rettungsdienst, Hausärzte, vier
Altenheime.
Und die beteiligen sich seit Anfang 2009 an einem Modellprojekt, initiiert
von Forschern aus dem benachbarten Düsseldorf und dem fernen Augsburg.
"Beizeiten begleiten" nennen die Macher ihre "kontrollierte
Interventionsstudie", deren Ziel es laut Projektleiter Jürgen in der
Schmitten ist, Altenheimbewohner "durch Beratung und Entwicklung valider
Patientenverfügungen die Teilhabe an künftigen Behandlungsentscheidungen zu
ermöglichen".
Beraten darf hier nur, wer zuvor durch die Projektverantwortlichen intensiv
geschult wurde; federführende Ausbilderin ist, neben Allgemeinmediziner in
der Schmitten (Uni Düsseldorf), die Augsburger Juristin Sonja Rothärmel;
bekanntester Kooperationspartner ist der Tübinger [1][Medizinethikprofessor
Georg Marckmann, der auch "kostensensible Leitlinien" zur "ethisch
vertretbaren Rationierung" im Gesundheitswesen entwickelt hat].
35 Heimmitarbeiter, überwiegend Pflegekräfte, auch Sozialarbeiter, hätten
sich bisher zu Vorsorgebegleitern weiterqualifiziert, sagt Rothärmel. Sie
sollen aktiv auf die Bewohner zugehen; zudem werben Plakate und Faltblätter
für ihre kostenlose Beratung, mit Überschriften wie "Ich möchte gerne in
Würde leben. Bis zuletzt."
Die im Projekt eingesetzten Musterverfügungen beschreiben
Behandlungssituationen, skizzieren Krankheiten und geben Antworten zum
Ankreuzen vor. Für den Fall "dauerhafter Unfähigkeit, selbst zu
entscheiden" - etwa aufgrund fortgeschrittener Demenz oder schwerer
Schädel-Hirn-Verletzungen - kann man im Vordruck zum Beispiel markieren,
dass man "jegliche lebensverlängernde Behandlung einschließlich künstlicher
Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr" ablehne. Man kann aber auch sein
pauschales Einverständnis erklären "mit intensiv- und notfallmedizinischen
Maßnahmen, ungeachtet eventuell geringer Erfolgsaussichten".
Entscheidungsunfähigkeit kann plötzlich eintreten, verursacht etwa durch
einen Schlaganfall oder Herzversagen. Dafür haben sich die "beizeiten
begleiten"-Macher ein weiteres Schriftstück einfallen lassen: die
"Hausärztliche Anordnung für den Notfall" (HAnNo). Sie ergänzt die
Patientenverfügung und lässt sechs Ankreuzmöglichkeiten zu.
Variante A zum Beispiel fordert "Uneingeschränkte Notfall- und
Intensivtherapie mit dem Ziel der Lebensverlängerung, einschließlich
Herz-Lungen-Wiederbelebung". Die Variante C hingegen schließt im Notfall
jede "lebensverlängernde Therapie" aus - sowohl stationär als auch
ambulant.
HAnNo und Patientenverfügung müssen mehrere Unterschriften tragen: Der
Patient soll so seinen "Behandlungswillen" ausdrücken. Sein Angehöriger
bestätigt, dass er die HAnNo "zustimmend zur Kenntnis" genommen hat. Der
projektgeschulte Begleiter erklärt, dass er den Entscheidungsprozess
unterstützt hat. Und der ebenfalls von "beizeiten begleiten" fortgebildete
Hausarzt bestätigt per Praxisstempel und Unterschrift, dass der Betroffene
oder sein Vertreter beim Abfassen der Erklärungen einwilligungsfähig war
und die Tragweite seiner Festlegungen verstanden hat.
Basis der ärztlichen Einschätzungen ist ein ausführliches Beratungsgespräch
mit den Verfügungswilligen. Der validierende Arzt soll pro Bewohner eine
Aufwandsentschädigung von 40,23 Euro aus Projektmitteln erhalten -
Finanzier der gesamten Studie ist das Bundesforschungsministerium, das
dafür fast 500.000 Euro ausgibt.
Das Original der HAnNo wird im Heimbewohnerordner abgelegt, der Hausarzt
verpflichtet sich, eine Kopie aufzubewahren. Von der HAnNo soll, so ihre
Entwickler, "im Notfall eine klare Botschaft" ausgehen: Die Vorgaben seien
für jedermann rechtlich verbindlich - für die Nachtschwester im Heim ebenso
wie für Mitarbeiter von Rettungsdienst, ärztlichem Bereitschaftsdienst und
Kreiskrankenhaus.
Wie viele der über 500 Grevenbroicher Heimbewohner eine dieser
Vorausverfügung und welchen Inhalts unterschrieben haben, wollen die
Forscher in ihrem Abschlussbericht bekannt geben, im Frühjahr 2011 soll er
fertig sein.
Allerdings verläuft die Studie nicht mehr reibungslos: Eines der vier
beteiligten Altenheime sowie eine Hausarztpraxis seien Ende April
ausgestiegen, bedauert Projektleiter in der Schmitten. Die Praxis habe
ihren Rückzug per Rundmail an alle Projektbeteiligten erklärt; anschließend
habe ein Heim, dessen Bewohner größtenteils von der dissidenten Praxis
medizinisch betreut würden, die Kooperation mit "beizeiten begleiten"
beendet.
Die abgesprungenen Ärzte hätten Zweifel an der Gesprächsführung der im
Projekt geschulten Berater, zumal fast alle Vorausverfügungen, die ihnen
zum Abstempeln vorgelegt worden seien, lebensverlängernde Therapien und
Wiederbelebung im Notfall ausgeschlossen hätten. Außerdem hätten die
Aussteiger ernste Bedenken, ob die im Projekt ebenfalls verbreitete, von
Allgemeinmediziner in der Schmitten selbst entworfene "Vertreterverfügung"
überhaupt rechtmäßig sei.
Vertreterverfügungen sind neu; sie stehen - anders als die
Patientenverfügung, zu der ja niemand gezwungen werden darf - in keinem
deutschen Gesetz. Dennoch wird Bevollmächtigten und Betreuern von Menschen
mit Demenz in Grevenbroicher Heimen nahegelegt, den mutmaßlichen Willen
ihrer schon nicht mehr einwilligungsfähigen Schutzbefohlenen vorab
verbindlich zu erklären - zum Beispiel, ob und wie der Betreute behandelt
werden wolle, falls ihn später ein lebensbedrohlicher Infekt, Schlaganfall
oder Herzversagen treffen sollte.
Die Forscher meinen, ihr Vorgehen sei rechtlich in Ordnung, und sie sind
zuversichtlich, dass sie in den Grevenbroicher Heimen erheblich mehr
Vorausverfügungen werden bilanzieren können als in der "Kontrollregion".
Gemeint sind zwei Nachbarstädte, wo zehn vergleichbare Heime liegen, in
denen bewusst keine "beizeiten begleiten"-Beratung stattfindet.
Perspektivisch wollen sie ihr Konzept überall im Lande anbieten. Eine
wesentliche Vorsorge dafür haben die Universitäten Düsseldorf und Augsburg
schon getroffen: Sie haben sich den Namen "beizeiten begleiten" plus Logo
markenrechtlich schützen lassen, unter der Nummer 302009008497 ist die
Marke im Register des Deutschen Patent- und Markenamts (DPMA) eingetragen;
der Markenschutz reicht bis März 2019, eine Verlängerung ist grundsätzlich
möglich.
Der Schutz für "beizeiten begleiten" erstreckt sich laut DPMA-Register auf
zahlreiche Waren und Dienstleistungen, darunter Lehr- und
Unterrichtsmittel, Erstellen von Pflege- und Behandlungsplänen sowie
Unternehmens- und Personalmanagementberatung.
9 Aug 2010
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## AUTOREN
Klaus-Peter Görlitzer
## TAGS
BGH
Arzneimittelgesetz
Demenz
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