# taz.de -- Thilo Sarrazin, der Eugeniker: Die Gene sind schuld | |
> Thilo Sarrazin vermischt in seinem neuen Buch über den angeblichen | |
> Untergang der Deutschen Halbwahrheiten mit Unsinn – und das in einem | |
> schrillen Tonfall. | |
Bild: Der Bundesbanker Thilo Sarrazin schürt weiterhin Vorurteile gegen muslim… | |
Thilo Sarrazin hat ein Buch mit 465 Seiten, 538 Fußnoten, 33 Tabellen und | |
10 Schaubildern verfasst. Der Titel ist zwar denkbar reißerisch und lautet | |
"Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen", | |
trotzdem ist dem Autor sehr daran gelegen, dass es ein wissenschaftliches | |
Werk sein soll. "Ich stütze mich in meinen Ausführungen auf empirische | |
Erhebungen", betont der Bundesbanker, Sozialdemokrat und einstige Berliner | |
Finanzsenator. | |
Diese "empirischen Erhebungen" erscheinen am heutigen Montag, und selten | |
hat ein Buch im Vorfeld derartige Diskussionen ausgelöst. Denn Sarrazin | |
argumentiert dezidiert biologistisch. Für ihn ist die Unterschicht nicht | |
sozial benachteiligt, sondern genetisch bedingt dümmer als die Oberschicht. | |
Es handle sich um eine "negative Auslese". | |
Überhaupt schreibt Sarrazin sehr gern über "Selektion". Seine | |
Formulierungen und "Analysen" erinnern nicht nur an die Eugenik - sie sind | |
Eugenik. | |
Nichts als Vorurteile | |
Sarrazin selbst glaubt, dass er ein Tabu bricht, wenn er formuliert, "dass | |
wir als Volk an durchschnittlicher Intelligenz verlieren, wenn die | |
intelligenteren Frauen weniger oder gar keine Kinder zu Welt bringen". Doch | |
ist dies kein Tabu - sondern wissenschaftlich unhaltbar. | |
Das beginnt bereits bei der Statistik. So ist Sarrazin überzeugt, "dass der | |
Anteil der kinderlosen Universitätsabsolventinnen die 40-Prozent-Marke | |
übersteigt". Sein Beleg: ein Wochenbericht des Deutschen Instituts für | |
Wirtschaftsforschung (DIW). Doch wer die angegebene Literatur studiert, | |
erlebt eine Überraschung. Denn das DIW kann bei Akademikerinnen nur eine | |
Kinderlosigkeit von 23 Prozent entdecken. | |
Noch grotesker ist Sarrazins Interpretation der Genetik. Er stellt sich die | |
menschliche Intelligenz wie die Farbe einer Erbse vor, die strikt nach den | |
Mendelschen Gesetzen vererbt wird. | |
Zwar hat er schon gehört, dass die Umwelt nicht zu vernachlässigen ist. | |
Aber ihm reicht es zu konstatieren, dass Intelligenz "zu 50 bis 80 Prozent | |
erblich" sei, um den Deutschen zu empfehlen, an ihrer genetischen Substanz | |
zu arbeiten, um die Massenverblödung zu verhindern. | |
Sarrazin geht nicht so weit, dass er der Unterschicht gänzlich verbieten | |
möchte, Kinder zu bekommen. Stattdessen will er gegensteuern, indem auch | |
die Akademikerinnen fruchtbarer werden. Programmatisch heißt ein Kapitel: | |
"Mehr Kinder von den Klugen, bevor es zu spät ist." | |
Dies war genau das Programm der Eugenik, die im 19. Jahrhundert von Francis | |
Galton erfunden wurde. Auf ihn beruft sich Sarrazin explizit - allerdings | |
ohne das Wort Eugenik zu verwenden. Sehr zielgenau verwendet er jedoch den | |
Begriff "dysgenisch", der ohne den Kontext der Eugenik gar nicht zu | |
verstehen ist und der 1915 erfunden wurde, um "negative Selektionsprozesse" | |
bei einer menschlichen Population zu beschreiben. | |
Dieser Rückgriff auf Theoretiker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zieht | |
sich durch das gesamte Buch. Sarrazin ignoriert konsequent sämtliche | |
modernen Erkenntnisse zur Intelligenz- und Genforschung. Denn dann hätte er | |
zur Kenntnis nehmen müssen, dass sich das Bild vom Gen stark gewandelt hat. | |
Wie immer deutlicher wird, gibt es keine deterministische Verbindung | |
zwischen den Genen und Eigenschaften wie Intelligenz. Inzwischen ist das | |
gesamte menschliche Genom entschlüsselt. Doch ein "Intelligenz-Gen" wurde | |
nicht entdeckt. Offenbar wirken zahllose Gene auf das Gehirn ein - und ob | |
sie überhaupt aktiviert werden und wie sie miteinander agieren, hängt sehr | |
wesentlich von den äußeren Anregungen ab. | |
Jedenfalls zeigte sich in Adoptionsstudien, dass Unterschichtenkinder | |
mühelos einen gymnasialreifen Intelligenzquotienten von 107 erreichen - | |
wenn sie von bildungsbeflissenen Mittelschichtsfamilien aufgenommen werden. | |
Obwohl Sarrazin die gesamte Unterschicht attackiert, sind es vor allem die | |
"muslimischen Migranten", von denen er sich bedroht fühlt. Sie seien | |
Schmarotzer, die "nicht den eigenen wirtschaftlichen Erfolg" anstreben, | |
sondern "die Absicherung und Alimentierung durch den Sozialstaat". | |
Dabei entgeht Sarrazin, wie viele Migranten sich bemühen, sich aus der | |
Abhängigkeit von Sozialleistungen zu befreien, indem sie eigene kleine | |
Betriebe gründen, die nur bei großem Arbeitseinsatz und äußerster | |
Selbstausbeutung überhaupt Ertrag abwerfen. Für Sarrazin sind diese | |
selbstständigen Existenzen jedoch keine Leistung, sondern "Ausdruck und | |
Ergebnis des mangelhaften Bildungsaufstiegs" der Migranten - sie sind | |
schlicht zu blöd für andere Jobs. | |
An anderer Stelle lobt der Wirtschaftsfachmann jedoch, dass die | |
Selbstständigenquote bei den Einheimischen immer noch höher sei als bei den | |
Zuwanderern - sind die angestammten Deutschen also noch blöder? | |
Alles wird zurechtgelegt | |
Auch beim Thema Bildung sortiert er sich die Fakten passend. Für Sarrazin | |
steht fest, dass nicht das deutsche Schulsystem, sondern nur die mangelnde | |
Intelligenz der muslimischen Migranten zu den schlechten Pisa-Ergebnissen | |
führt. Denn mit Finnland und Korea würden zwei Länder siegen, die zwar sehr | |
verschiedene Schulsysteme, aber kaum Einwanderung hätten. | |
Dazu will jedoch nicht passen, dass auch die Niederlande viele muslimische | |
Zuwanderer haben - und auf Platz vier bei Pisa stehen. | |
Auch Sarrazin, der mit einer Lehrerin verheiratet ist, sieht, dass an den | |
deutschen Schulen manches zu verbessern wäre. Sein Ansatz klingt gar nicht | |
schlecht: Schulen müssten "jeden Menschen befähigen, das ihm Gemäße - und | |
damit das Beste - aus sich zu machen". | |
Doch dann schränkt er ein: Es bringe eben nicht jeder die nötigen | |
Voraussetzungen mit. "Die beste Schule macht ein dummes Kind nicht klug" - | |
blöd bleibt blöd. | |
Dass die muslimischen Migranten selbst schuld sein müssen, ist für Sarrazin | |
schon deswegen belegt, weil Osteuropäer und Asiaten sich problemlos ins | |
Bildungssystem integrierten. Also müsse es ihre "Mentalität" sein, die | |
muslimische Migrantenkinder häufig an der Schule scheitern lasse. | |
Zu dieser "kulturell bedingten" Mentalität gehöre, dass muslimische Jungen | |
am liebsten unter sich blieben, Frauen jeden Respekt verweigerten und ihre | |
Lehrer gern als "Hurensöhne" titulierten. | |
Als Beweis zitiert Sarrazin den arabischstämmigen Berlin-Neuköllner | |
Sozialarbeiter Fadi Saad: "Mit Kuschelpädagogik kommt man bei diesen | |
abgebrühten Jungs nicht weiter", sagt Saad, selbst ehemaliges | |
Gang-Mitglied. Gleichzeitig berichtet dieser noch, dass es in Schulen im | |
Libanon üblich sei, saubere Fingernägel vorzuzeigen - und völlig undenkbar, | |
den Lehrer als "Hurensohn" zu begrüßen. | |
Offenbar gibt es doch keine Mentalität, die aus der Herkunftskultur | |
importiert wird - sonst wäre das Verhalten der muslimischen Jugendlichen in | |
Berlin und im Libanon ja nicht so unterschiedlich. | |
Genauso seltsam ist Sarrazins Behauptung, dass ausgerechnet unter den | |
Muslimen der kriminelle Nachwuchs von morgen heranwächst. Zwar weist die | |
Berliner Kriminalitätsstatistik bei jugendlichen Intensivtätern eine | |
überdurchschnittlich hohe Zahl von Nichtdeutschen aus. Doch die von | |
Sarrazin als so integriert gelobten Osteuropäer stehen dort an erster und | |
die Vietnamesen an dritter Stelle. | |
Auch Sarrazin muss einräumen, dass "95 Prozent" der etwa vier Millionen | |
Muslime in Deutschland "friedliebend" seien. Doch das beruhigt sein | |
Misstrauen keineswegs, denn diese "kulturell andersartige Minderheit" sei | |
den aktuellen Strömungen des weltweiten Islam ausgesetzt - den Sarrazin | |
umstandslos als islamistisch und tendenziell terroristisch beschreibt. | |
Er ignoriert, dass der Islam bei den hier lebenden Muslimen kaum auf | |
Interesse stößt: Noch nicht einmal 5 Prozent gehören einer hiesigen | |
islamischen Organisation oder einem der Dachverbände an - die sich überdies | |
längst von Terrorismus distanziert haben. Die überwältigende Mehrheit der | |
Muslime will sich offenbar weder für den Neubau von Moscheen noch bei der | |
Kopftuchfrage engagieren. | |
Einseitig und falsch | |
All das blendet Sarrazin aus. Zudem bezieht er sich sehr einseitig allein | |
auf Texte aus der "Multikulti ist gescheitert"-Schule. Fachleute mit | |
anderen Ansätzen wie etwa den Migrationsforscher Klaus Bade, die | |
Professorin für interkulturelle Pädagogik Yasemin Karakasoglu oder den | |
Islamexperten Werner Schiffauer bemüht er nicht. | |
Stattdessen zitiert er viel und gerne Necla Kelek, die als scharfe | |
Islamkritikerin bekannt und ebenso umstritten ist. Doch selbst Sarrazins | |
Angriffe auf Keleks Kritiker verraten noch, wes Geistes Kind er ist. Man | |
könne doch eine Deutschtürkin gar nicht zur Deutschnationalen stempeln, so | |
seine Logik. Deutsche wird für Sarrazin auch Necla Kelek nicht. | |
Thilo Sarrazin: "Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel | |
setzen". DVA, München 2010, 465 Seiten, 22,99 Euro | |
29 Aug 2010 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
Alke Wierth | |
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