# taz.de -- Muslimische Blogger in Deutschland: Live aus der Parallelgesellscha… | |
> Sie sind jung, gut ausgebildet und wollen nicht jedes Medien-Urteil über | |
> ihre Werte akzeptieren: Immer mehr deutsche Muslime bloggen – aus | |
> unterschiedlichen Gründen. | |
Bild: Grün symbolisiert unter anderem den Islam. | |
"Schlimmer noch als Thilo Sarrazin" hat Omar Abo-Namous seinen Beitrag auf | |
[1][betitelt]. "Live aus der Parallelgesellschaft" heißt das Motto dieses | |
"krümeligen Weblogs"; Abo-Namous kommentiert hier, wie er im Büro mit | |
Sarrazins kruden Thesen zur Migration belästigt wird. | |
"Gestern Morgen versüßte mir ein netter Mitarbeiter die Ankunft am Institut | |
mit der Bemerkung, ich sei sicherlich genervt, da ich gestern Thilo | |
Sarrazin bei ,Beckmann' gesehen hätte", schreibt Abo-Namous: "Nein, habe | |
ich nicht. Ich habe randwärtig gehört, dass es eine solche Diskussion gab, | |
aber die Sendung habe ich nicht gesehen. Der Mitarbeiter grinste und meinte | |
mir unterstellen zu müssen, dass ich ja beleidigt sei. Nein, bin ich nicht. | |
Warum denn auch?" | |
Auch auf der Online-Plattform [2][MyUmma.de] - Untertitel "Netzwerk aktiver | |
Muslime. Pool für Konzepte,my Muslimische Islamische, Veranstaltung, | |
Community, Plattform" - einer Mischung aus Xing und StudiVZ, wollen junge | |
Muslime vor allem miteinander in Kontakt treten und ihre Projekte bewerben. | |
Doch wer hier die ganz großen Unterschiede wittert, irrt: Natürlich bloggen | |
alle aus ganz unterschiedlichen Beweggründen. Allerdings sind es die | |
gleichen Fragen und Diskussionen zu Politik, Technik, Gesellschaft und | |
Zukunft, wie man sie auch in nicht muslimischen Blogs findet. Die Übergänge | |
zwischen religiösen und beruflichen Themen sind fließend, Gemeinsamkeiten | |
mit Nichtmuslimen werden betont - und genau das macht diese Blogs zu | |
Vorreitern der islamischen Gesellschaft. | |
"Sie fordern Gleichberechtigung und Neutralität", sagt Götz Nordbruch, | |
Islamwissenschaftler und Experte für das Medienverhalten von jugendlichen | |
Migranten in Deutschland. Dabei sei natürlich auch ein Beweggrund, nicht | |
jedes mediale Urteil über die eigenen Wertvorstellungen unwidersprochen | |
über sich ergehen lassen zu müssen. Der Boom der Blogs seit zwei, drei | |
Jahren und auch die steigende Nutzung von sozialen Netzwerken durch junge | |
Muslime resultiert aus dem Bedürfnis, Teil eben dieser Gesellschaft sein zu | |
wollen, in der man sich immer noch erklären muss. Und das, obwohl man hier | |
geboren und aufgewachsen ist. | |
Das Phänomen ist Teil einer Bewegung, die von Julia Gerlach in ihrem Buch | |
"Zwischen Pop und Dschihad: Muslimische Jugendliche in Deutschland" zwar | |
einen nicht übermäßig originellen Namen - "Pop-Islam" - erhalten hat, aber | |
eben auch jede Menge Aufmerksamkeit. | |
Selbstbild diskutieren | |
"Wir haben unterschiedliche Botschaften und wollen zwischen den | |
verschiedenen Lagern Frieden stiften. Vermitteln, dass der Islam nicht mit | |
Gewalt und Frauenfeindlichkeit gleichzusetzen ist", sagt auch die Bloggerin | |
und taz-Kolumnistin Kübra Yücel. Sie will mit ihrem Blog [3]["das | |
fremdwoerterbuch"] aus dem Alltag als junge Migrantin berichten und den | |
gängigen Vorurteilen über Kopftuch und Islam mit Humor entgegentreten. | |
Toomuchcookies-Betreiber Omar Abo-Namous schätzt beim Bloggen die Freiheit, | |
seine Gedanken "einfach runterschreiben" zu können. Er stellt das | |
Selbstverständnis von Muslimen, muslimischen Verbänden und deren interne | |
Debatten in den virtuellen Raum. Die so selbstbewusst wie auch | |
selbstverständlich vorgetragene Botschaft, sehr wohl mit seiner Herkunft, | |
Religion und der modernen Lebenswelt in Deutschland im Einklang leben zu | |
können, füllt eine lang ignorierte Lücke in der Diskussion über | |
Integration, Fremd- und Selbstbild. | |
Bei all den feinen Unterschieden gibt es zwei große Gemeinsamkeiten: Zum | |
einen ist das Bildungsniveau unter den deutschen, muslimischen Bloggern | |
überdurchschnittlich hoch. Sie sind jung, erfolgreich, ehrgeizig - zumeist | |
Gymnasiasten, Studierende oder junge Unternehmer, die sich auch über ihre | |
Netzaktivitäten hinausgehend gesellschaftlich engagieren. Und zum anderen | |
spielen religiöse Themen eine größere Rolle auf den so hipp gehaltenen | |
Seiten. Die Verknüpfung von zum Teil konservativen Ansichten mit modernen | |
und erfolgreichen Lebens- und Berufswelten ist oft ein Thema. "Es ist eben | |
ein Missverständnis, dass moderne Medien religiöse Werte auflösen, es gibt | |
ja auch genug christliche Jugendliche, die sich des Webs 2.0 bedienen, um | |
ihre Anliegen zu formulieren", sagt Nordbruch. | |
Die Vernetzung untereinander fand bisher nur virtuell oder in ganz kleinem | |
Rahmen statt. Eigene Veranstaltungen der muslimischen Bloggerszene in | |
Deutschland gab es bisher selten. Das soll sich ändern: Neben seinem | |
erfolgreichen Blog hat Omar Abo-Namous den Muslim Blogkarneval | |
eingerichtet. Ziel: die Vernetzung der Blogger untereinander sowie | |
Gebrauchsanweisung und Hilfestellung für Neulinge, die ein eigenes Blog | |
starten wollen. "Der Karneval soll Muslimen die Möglichkeit geben, auch | |
einmal zu Wort zu kommen und zu beschreiben, wie das Leben eines Muslims im | |
deutschen Alltag aussieht", sagt Abo-Namous. | |
Mehr Vernetzung | |
Auch Ferit Demir wünscht sich mehr Vernetzung. Er führt eine Medienagentur, | |
die sich speziell mit Marketingmöglichkeiten in sozialen Netzwerken | |
auseinandersetzt. Er will Muslime in Deutschland motivieren, das Internet | |
aktiv als Kommunikationsplattform für ihre Interessen zu nutzen. Deswegen | |
hat er schon 2009 einen eigenen Blogwettbewerb ausgerufen - nur für | |
Migranten und Muslime. Für die anderen, sagt Demir, gäbe es ohnehin genug | |
Angebote. | |
Aus einem Hirngespinst geboren ist die Vernetzungsinitiative "Zahnräder - | |
Netzwerk junger muslimischer Köpfe". Das sagen jedenfalls die Initiatoren | |
selbst, die ihre Idee in nächtlichen Skype-Konferenzen über mehrere Länder | |
verstreut austüftelten. Das erste große Treffen der "Zahnräder" ist für | |
Ende September in Wuppertal geplant, rund 100 TeilnehmerInnen werden | |
erwartet. Gemeinsam wollen sie als "Changemakers" auftreten und sich und | |
die Gesellschaft motivieren: "Junge Muslime haben in Deutschland einfach | |
keine Presse und wissen wenig voneinander. Mit dem Projekt wollen wir auch | |
den Offline-Austausch fördern", sagt Abdulkadir Topal, Mitglied des | |
Gründerteams. Unterstützt wird "Zahnräder" von Cedar, dem European Muslim | |
Professionals Network. Wenn das Projekt Erfolg hat, sollen die Treffen | |
künftig jährlich stattfinden. | |
Denn mehr Dialog und multimediale Präsenz wirke auch gegen Islamophobie: | |
"Die Hemmschwelle, ihre Botschaften im Netz zu verbreiten, ist für junge | |
Muslime verhältnismäßig hoch, meist aus beruflichen Gründen", so Demir. | |
Während Nichtmuslime mit einem Blog vor allem die eigene virtuelle | |
Reputation stärken wollten, verhalte es sich bei Muslimen genau umgekehrt: | |
"Einige haben richtiggehend Angst, dass ihnen durch Online-Aktivitäten ein | |
beruflicher Nachteil entsteht, daher bleiben sie lieber ohne Identität im | |
Netz. Sie befürchten, dass sie automatisch mit extremistischen | |
Einstellungen in Verbindung gebracht werden, wenn sie im Netz auftauchen." | |
So etwas klingt längst nicht nur nach Pop - auch Götz Nordbruch sagt, das | |
Label "Pop-Islam" sei zwar gut gewesen, um für Aufmerksamkeit zu sorgen. | |
Mittlerweile hat der Begriff für ihn aber viel zu wenig Aussagekraft, um | |
das breite Spektrum der Initiativen und sich engagierenden Personen | |
abzubilden. | |
"Man interpretiert da totale Homogenität in eine ganze Generation", meinr | |
Nordbruch. Dabei gebe es so viele verschiedene Interessen und Motivationen: | |
"Der Begriff eignet sich daher vielleicht nicht mehr, um dieses Phänomen zu | |
beschreiben - aber das Phänomen ist sicherlich nicht tot." Die breite | |
deutsche Öffentlichkeit reagiere allerdings fast erschrocken auf die | |
Tatsache, dass es sich nicht um eine homogene Gruppe handelt. Von daher | |
kann es gar nicht genug solcher Blogs geben. | |
10 Sep 2010 | |
## LINKS | |
[1] http://toomuchcookies.net | |
[2] http://MyUmma.de | |
[3] http://ein-fremdwoerterbuch.blogspot.com/ | |
## AUTOREN | |
Julia Herrnböck | |
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