# taz.de -- Wikileaks-Chef Julian Assange: Ein Einbruch beim Psychiater | |
> Die aktuellen Enthüllungen von Wikileaks werden überlagert von | |
> Spekulationen über Julian Assange, dem Chef der Enthüllungsseite. | |
Bild: Als Überbringer der Botschaft kritisch beäugt: Wikileaks-Frontmann Juli… | |
1971 kopierte Daniel Ellsberg, Mitarbeiter einer militärischen | |
"Denkfabrik", 7.000 Dokumente, anhand derer sich das vertuschte wahre | |
Ausmaß des Vietnamkrieges dokumentieren ließ - und reichte sie an die | |
Presse weiter. | |
Präsident Nixon stellte daraufhin eine Spezialeinheit zusammen, sogenannten | |
Klempner, die das Informationsleck abdichten sollten. Dazu gehörte unter | |
anderem auch ein Einbruch in die Praxis des Psychiaters von Ellsberg - in | |
der Hoffnung, belastende Hinweise auf die geistige Gesundheit des lästigen | |
"Whistleblowers" zu finden, um ihn zu diskreditieren. | |
Mit dieser alten Geschichte im Hinterkopf kann man sich nun bei YouTube ein | |
aktuelles, nie gesendetes [1][CNN-Interview] mit Wikileaks-Sprecher Julian | |
Assange anschauen. Offizieller Anlass für die Aufzeichnung war die | |
sensationelle Veröffentlichung von 400.000 Geheimdokumenten zum Krieg im | |
Irak. | |
Während nun die Interviewerin vor einem aufklärerisch weißen, weich | |
ausgeleuchteten Hintergrund ihre Fragen stellt, ist ihr Gesprächspartner | |
hübsch suggestiv in ein aggressives Rot getaucht. Entsprechend entwickelt | |
sich das Interview, als die Journalistin Assange beharrlich zur | |
"Schmierenkampagne" befragt, er habe zwei Frauen vergewaltigt: | |
CNN: Wollen Sie sich nicht äußern, ob dies eine Attacke ist? | |
Assange: Nein, diese Herangehensweise ist völlig abstoßend. | |
CNN: Ich frage, ob … | |
Assange: Ich gehe, wenn sie weiterhin unsere Enthüllungen zum Tod von | |
104.000 Menschen in Verbindung bringen mit Attacken auf meine Person. | |
CNN: Ich will nur fragen, ob Sie den Eindruck haben, dass das eine Attacke | |
auf Wikileaks ist. | |
Assange: Okay, sorry. | |
An dieser Stelle bricht Assange das Interview ab, spaziert aus dem Studio - | |
und kann anderntags in der Zeitung lesen, dieser Abgang sei ein weiteres | |
Beispiel seiner "Wahnhaftigkeit". | |
Da ist, nicht zuletzt auf Betreiben von Assange und unter Umgehung | |
jeglicher Propaganda, ein Krieg in seinen banalen, haarsträubend | |
verbrecherischen und schockierenden Details zum vielleicht ersten Mal in | |
der Geschichte mit erdrückender Akribie dokumentiert, von der | |
Komplizenschaft der US-Armee mit irakischen Folterknechten über | |
versehentliche Hinrichtungen bis zur in Kauf genommenen Ermordung von | |
Kindern - und alles, was den etablierten Medien dazu einfällt, ist: Ja, | |
schon, schlimm, klar - aber wie ist dieser Assange eigentlich privat so? | |
Er lebt, wenn er nicht in wechselnden Wohnungen auf einem Sofa übernachtet, | |
in einer einsamen Hütte in Nordschweden. Er war Hacker. Er ist ein | |
egomanischer Tyrann. Er wechselt seine Mobiltelefone wie andere Männer ihre | |
Hemden. Er bezahlt nie mit Kreditkarte, sondern immer nur bar, und das Geld | |
leiht er sich von Freunden. | |
Seine Freunde verlassen ihn. Er bewegt sich wie ein Mann, der gejagt wird. | |
Ein ehemaliger Mitarbeiter sagt: "Er tickt nicht mehr richtig." Er führt | |
einen Privatkrieg gegen die Vereinigten Staaten. Er hat zwei Frauen | |
vergewaltigt. Okay, sexuell belästigt. Na gut, dann eben nur belästigt. | |
Oder auch nicht. | |
Genau so las man's in der New York Times, die ihrer Berichterstattung zu | |
den Enthüllungen von Wikileaks ein Fernpsychogramm von Julian Assange | |
beistellte. Um zu ihrem Fazit zu kommen, dass der Typ ein gefährlicher | |
Irrer ist, mussten Journalisten nicht einmal bei einem Psychiater | |
einbrechen. Wikileaks tut, was eigentlich Aufgabe des Journalismus wäre. | |
Darauf reagiert der Journalismus gereizt und gekränkt. | |
Der Ton ist auch hierzulande ein ähnlicher. Die Frankfurter Rundschau fragt | |
wehrtüchtig, ob wir "auf dem Weg zu einer Gesellschaft billiger Verräter" | |
sind, die Süddeutsche Zeitung kommentiert staatstragend, Assange lasse | |
"jede Bereitschaft zur Abwägung der widerstreitenden Interessen vermissen". | |
Überhaupt sei der Mann kein Journalist. | |
Im ZDF-"auslandsjournal" wurde dann auch streng investigativ "einmal | |
ausgerechnet, wie lange man bräuchte, das alles zu lesen". Ergebnis: "Eine | |
Menge Holz". Echte Journalisten dagegen prüften Informationen, anstatt | |
"einfach alles weiterzureichen an andere Medien", wie es im Beitrag hieß: | |
"Und trotzdem setzt sich der geheimnisvolle Wikileaks-Chef immer wieder mit | |
eigenen Interpretationen in Szene." Etwa indem er Kriegsverbrechen, nun ja, | |
als "Verbrechen" interpretiert. | |
Daniel Ellsberg hat neulich erklärt, er fühle sich mit Assange "verwandt". | |
Anders als vor 40 Jahren aber existiert heute keine Gegen- oder | |
Protestkultur mehr, auf deren fruchtbaren Boden die Wikileaks-Enthüllungen | |
fallen könnten. | |
Vielleicht ist seine späte Geburt ja Julian Assanges eigentliche Tragik: Er | |
stopft die Gesellschaft mit einer Wahrheit, für die sie keinen Magen hat. | |
Wahnsinnig ist deshalb nicht die blutige und gleichwohl alltägliche | |
Groteske des Krieges, pervers sind nicht seine Befürworter und Betreiber - | |
der Überbringer dieser Botschaft muss es sein. | |
27 Oct 2010 | |
## LINKS | |
[1] http://www.youtube.com/watch?v=d_0-KUaQl7k | |
## AUTOREN | |
Arno Frank | |
## TAGS | |
Staatsanwalt | |
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