| # taz.de -- Debatte Meinungsumfragen: Der flexible Charakter ist gefährlich | |
| > Sind die Deutschen ein Volk von Untertanen oder Querulanten? | |
| > Meinungsumfragen können derzeit wenig mehr als diffuse Stimmungen | |
| > einfangen. | |
| Bild: "Lehnen Sie das Bauvorhaben voll und ganz ab" oder "lehnen Sie es nur ab"… | |
| Das in Deutschland lebende Volk eignet sich stets für neue Klischees und | |
| endlose Debatten: Die Deutschen sind zu weiten Teilen ausländerfeindlich | |
| und chauvinistisch, die Muslime verweigern die Integration, und erwachsene | |
| Arbeitslose leben, trotz zunehmender Kinderarmut, in spätrömischer | |
| Dekadenz. | |
| Zugleich werden die Deutschen zunehmend zu Querulanten, blockieren | |
| Großprojekte wie Stuttgart 21, mischen sich mit Volksbegehren zunehmend in | |
| die Geschäfte der Obrigkeit ein, wollen dann aber plötzlich einen neuen | |
| Führer, wenn man sie danach fragt. Alles geht, nichts muss! | |
| Wichtig sind steile Thesen, Zuspitzungen, Generalisierungen: die Deutschen, | |
| die Muslime, rassistisch, radikal, dumm, faul? Die Gemütsdiagnosen müssen | |
| alarmierend und erschreckend sein. Politiker brauchen Emotionen, sie | |
| schauen dem Volk aufs Maul. Dann greifen sie die publizierte Stimmung auf | |
| und hauen verbal auf den Tisch - so wie Seehofer kürzlich mit seiner | |
| Forderung nach einem Zuwanderungsstopp. | |
| Die Medien senden anschließend die Politikerworte als positives Feedback an | |
| ihr Publikum zurück, das sich dann wiederum bestätigt fühlt. Auf diese | |
| Weise werden über mediale Debatten gesellschaftliche Zustände erst | |
| diskursiv erzeugt. Das statistische Rüstzeug liefern Umfragen. An den | |
| Wahlbarometern lassen sich die politischen Erfolge ablesen. | |
| Wer will einen neuen Führer? | |
| Die Sozialforschung als drittmittelabhängiger Betrieb kann sich dieser | |
| Diskurslogik nicht entziehen. Ihre Auftraggeber wollen mitmischen. Wie in | |
| der jüngst veröffentlichten Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung über | |
| rechtsextreme Einstellungen bei den Deutschen begnügt man sich meist mit | |
| vorgefertigten Fragebögen. "Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren | |
| Sozialstaat auszunutzen", bestätigten 47 Prozent der Befragten, 10 Prozent | |
| wünschten sich einen neuen Führer. | |
| So fürchterlich diese Ergebnisse sind, so fragwürdig erscheinen sie. Die | |
| Tendenz stand von vornherein fest. Denn gefragt wurden die Leute gezielt | |
| nach den Phrasen, die man hören wollte. Die Befragten konnten nur noch | |
| zwischen fünf Stufen der Zustimmung bzw. Ablehnung wählen. So lassen sich | |
| Meinungen addieren und Gedanken auf Kennziffern reduzieren. Was der | |
| konkrete Mensch tatsächlich will, seine subjektiven Begründungen, Wünsche | |
| und seine Kritik verschwinden hinter dem toten Zahlenwerk. | |
| "Lehne voll und ganz ab", "lehne ab", "stimme voll und ganz zu": Zwischen | |
| fünf Stufen auf der Skala muss sich der Interviewteilnehmer entscheiden: zu | |
| Fragen, die nicht seine sind, und zu Thesen, die ihm vielleicht niemals in | |
| den Sinn kommen würden. Irgendetwas sagen, spontan aus dem Bauch heraus, | |
| obwohl ihn dort ganz andere Dinge quälen. Doch die passen nicht in | |
| standardisierte Fragebögen. | |
| Vorgefertigter Fragenkatalog | |
| Wer das Prozedere, das einem Verhör ähnelt, kennt, weiß auch, wie schnell | |
| einem die Kinnlade nach unten klappt und man aus purer Verzweiflung | |
| irgendeine Bewertungsziffer nennt, damit der Interviewer endlich Ruhe gibt. | |
| Was mit den arg konstruierten Fragen genauer gemeint ist, rauscht | |
| irgendwann an den Ohren vorbei wie die Werbung auf RTL. | |
| In Umfragen wie in den Krawall-Talkshows der Privatsender darf sich jeder | |
| ungestraft austoben, die Schuld den Schwächeren zuschieben, pöbeln und | |
| beleidigen. Das ist die Stimme des ohnmächtigen Bürgers, der das Ganze | |
| nicht mehr begreift und auch nicht begreifen soll. Fremdenfeindliche und | |
| faschistoide Parolen projizieren klare Feindbilder. | |
| Schon seit 2001 berichtet der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer in | |
| seiner jährlichen Studie "Deutsche Zustände" über rechtsextremes | |
| Gedankengut, das kontinuierlich weit verbreitet ist, aber zuletzt wieder | |
| leicht abnahm. Es scheint ein Dauerproblem zu bleiben, solange bestimmte | |
| Medien und Politiker immer wieder die Wut des "kleinen Mannes" auf | |
| Randgruppen zu kanalisieren vermögen. Doch zwischen Worten und Taten liegt | |
| zum Glück ein weiter Weg. Meist bleibt das verbale Gedröhne in der Bierdose | |
| stecken. | |
| Meinungsumfragen verlieren ihren Wert, je schneller Debatten wie Stimmungen | |
| wechseln - auch weil die Menschen anders handeln, als sie reden, und reale | |
| politische Bewegungen meist unangekündigt alle Vorhersagen über den Haufen | |
| werfen. Die statistisch ausgerichtete Sozialforschung kann diese | |
| Komplexität nur schwer erfassen, weil sie auf einen Begriff der | |
| Persönlichkeit verzichtet. Sie zählt nur Befragungspunkte wie Erbsen und | |
| ordnet sie in ihre Töpfchen ein. | |
| Unberechenbare Stimmungen | |
| Schließt man von solchen Ad-hoc-Befragungen auf fundierte Überzeugungen, | |
| dann ignoriert man allerdings den wirtschaftlichen und sozialen Wandel der | |
| vergangenen 40 Jahre: Feste Überzeugungen sind obsolet geworden, so wie die | |
| berechenbare Persönlichkeit, die morgen noch zu dem steht, was sie heute | |
| schwätzt. Der flexible Kapitalismus hat flexible Menschen geformt, die sich | |
| spontan in jedes Arbeitsteam reibungslos einfügen, sich gegenüber den | |
| permanenten Umstrukturierungen und "Reformen" stets aufgeschlossen zeigen. | |
| Der "autoritäre Charakter", den Erich Fromm Anfang der 1930er Jahre bei der | |
| ersten großen Umfragestudie über das faschistische Potenzial in Deutschland | |
| erkannt hatte, war ein verbohrter Starrkopf, der schon wenige Jahre später | |
| bis zum letzten Blutstropfen an der Ostfront mordete. Dieser Menschentyp | |
| spielt zum Glück heute kaum noch eine Rolle. | |
| An seine Stelle ist ein beliebiger Charakter getreten: Es sind Leute, die | |
| jederzeit ihre Koffer packen können, wenn es der Arbeitsmarkt verlangt, die | |
| Freundschaften über Facebook pflegen und ihre Beziehungen per SMS beenden. | |
| Sie wählen heute FDP und fluchen morgen über deren Klientelpolitik, weil | |
| sie nicht gelernt haben, dass Entscheidungen Konsequenzen haben und aus | |
| frei flottierenden Meinungen Ernst werden kann. | |
| Dieser neue Charaktertypus ist alles andere als faschistisch, aber dennoch | |
| gefährlich. Da ihm tiefere Überzeugungen fehlen, kann er auch zuschlagen, | |
| wenn ihn der Frust überkommt und das Tatvideo anschließend auf YouTube | |
| erscheint. Am nächsten Tag wars dann "nicht so gemeint". | |
| 1 Nov 2010 | |
| ## AUTOREN | |
| Rainer Kreuzer | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Stuttgart 21 | |
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