# taz.de -- Kommentar Stärke der Grünen: Liebling der Saison | |
> Die Stärke der Grünen ist der Schwäche der Konkurrenz geschuldet. Denn | |
> politisch steht die Partei heute nur für einen profillosen Pragmatismus. | |
Die Grünen sehen sich nach Meinungsumfragen derzeit im starken Aufwind: | |
Bundesweit kämen sie auf 20 Prozent der Stimmen, und bei den nächsten | |
Wahlen in Baden-Württemberg (März 2011) oder in Berlin (September 2011) | |
könnten sie sogar die SPD überholen. | |
Analysen der letzten Bundestagswahl zeigen, dass die grüne Wählerschaft aus | |
überdurchschnittlich gebildeten und wirtschaftlich abgesicherten Menschen | |
besteht. Die mittleren und unteren Schichten gehören eher nicht zur | |
Klientel der Grünen. Ihnen hat die Partei auch wenig zu bieten außer Fritz | |
Kuhns legendärer Phrase: "Den Leuten gute Botschaften plakativ vortragen". | |
Das saturierte und liberale Justemilieu wiederum wählt grün statt FDP, weil | |
es, wohl aus einem diffusen Restgefühl für soziale und politische | |
Verantwortung, vom bornierten "Leistungsträger"-Gedöns von Westerwelle bis | |
Sarrazin angeekelt ist. | |
Es sieht seine Interessen und vor allem die seines Nachwuchses bei den | |
Grünen bestens aufgehoben. Deshalb nimmt es auch hin, dass das grüne | |
Führungspersonal gelegentlich noch leise rot-grün vor sich hin säuselt, | |
sich in Wahlkämpfen aber am liebsten "nach allen Seiten offen" (Renate | |
Künast) zeigt. | |
Das heißt, nach links blinken, um nach rechts abzubiegen, wie zuletzt in | |
Hamburg und im Saarland und voraussichtlich im Frühjahr in | |
Baden-Württemberg der Fall. Der grüne Fraktionsvorsitzende dort, Winfried | |
Kretschmann, und Tübingens grüner Oberbürgermeister Boris Palmer lassen die | |
schwarz-grüne Option ausdrücklich offen. Und das, obwohl die historische | |
Chance besteht, die schwarze Dauerherrschaft im Südwesten zu beenden. | |
Wofür steht Renate Künast? | |
Auch Renate Künast, die für das Amt des Regierenden Bürgermeisters von | |
Berlin antritt, lässt die Koalitionsfrage ausdrücklich offen. Kein Mensch | |
weiß, wofür sie eigentlich steht - außer für eine neue "Touristenabgabe", | |
um den Haushalt der Hauptstadt zu sanieren. Künast ist das Musterbeispiel | |
für einen profillosen Pragmatismus der Grünen. Die gelernte | |
Sozialarbeiterin und Rechtsanwältin war fast ihr ganzes Berufsleben in der | |
Politik tätig und ist dabei ziemlich betriebsblind (sie nennt es | |
"professionell") geworden. | |
Früher taumelten die Grünen zwischen radikalen Forderungen und | |
Opportunismus hin und her. Mittlerweile herrscht Opportunismus pur. Die | |
Exvorstandssprecherin Gunda Röstel beschwor einst "die Dreieinigkeit" - | |
nicht von Vater, Sohn und heiligem Geist, sondern von "Partei, Programm und | |
Persönlichkeit" - und entschwebte so ins Grün-Theologische. Joschka Fischer | |
transponierte das ins Geschichtsphilosophisch-Hegelsche, als er von einer | |
Evolution von der "Protest- über die Konzept- zur Gestaltungspartei" | |
schwärmte. | |
Daran stimmte rein gar nichts: Den ökologischen Protest hat die Partei | |
nicht erschaffen, sie hat vielmehr die sozialen Bewegungen beerbt. Die | |
Konzepte, mit denen sie einst hausieren ging, stammten aus unabhängigen | |
Quellen außerhalb der Partei. Und wenn die Grünen mal eine eigene Forderung | |
lancierten wie beim Parteitag von Magdeburg, wo sie fünf Mark für den Liter | |
Benzin forderten, bekamen sie schnell kalte Füße. | |
Was schließlich folgte, wenn es ans Gestalten ging, reicht von Hartz IV | |
über die Rentenreform bis zum Afghanistan-Abenteuer. Der Basta-Kanzler | |
übersetzte Carl Schmitts Parlamentarismuskritik - "alle reden, keiner | |
entscheidet" - ins Neu- und Starkdeutsche: "Ich entscheide, danach dürft | |
ihr über alles reden." Aus den Grünen wurde ein Hündchen an Schröders | |
kurzer Leine. | |
Hartz IV und Afghanistankrieg | |
Als Schröder 2001 die deutsche Teilnahme am Afghanistankrieg mit der | |
Vertrauensfrage verknüpfte, folgte ihm die grüne Parteitagsregie in Rostock | |
brav. Sie stellte ein Junktim her zwischen Kriegsbeteiligung und dem | |
Verbleiben in der Regierung. Der Riesenstaatsmann Fischer brach damit das | |
politisch-moralische Problem des Krieges auf das handliche Format von | |
Versorgungsansprüchen herunter. | |
Nach dieser Selbstabdankung war das intellektuelle Niveau grüner Debatten | |
nach unten offen. Von "anarchisch entfesselten kommunikativen Freiheiten" - | |
nach Jürgen Habermas das Lebenselixier demokratischer Debatten - war bei | |
den Grünen nun nichts mehr zu spüren, dafür viel von der Schäbigkeit | |
manipulativen Zwangs gegenüber Parteitagsdelegierten. | |
Schwarzer Peter bei der SPD | |
Der aktuelle Aufschwung der Grünen rührt daher, dass das Ansehen der | |
Volksparteien - insbesondere der SPD - zerbröselt. Es ist nicht die eigene | |
Stärke, die den Grünen nun Zulauf verschafft, sondern die eklatante | |
Schwäche der SPD. Bei den letzten Bundestagswahlen wechselten fast eine | |
Million Wähler von der SPD zu den Grünen. | |
Die sozialen Grobheiten der rot-grünen Regierung (Hartz IV, Ich-AG, | |
Flexibilisierung, Niedriglohnsektor, Rentenreform) und die politischen | |
Fehlentscheidungen (Afghanistankrieg) werden allein der SPD zugerechnet, | |
weswegen die SPD allmählich ausblutet. Und die Grünen tun so, als hätten | |
sie nie in der Regierung alle diese Entscheidungen mit durchgewinkt. | |
Die Hochkonjunktur der Grünen wirkt noch erstaunlicher, bedenkt man, dass | |
die Partei programmatisch fast nichts bietet, was nicht andere Parteien | |
auch im Angebot haben. Jürgen Trittin erklärte vor Jahren einmal die drei | |
"Grundlinie der Grünen": Erstens: "ökologische Modernisierung" - dafür | |
plädieren mittlerweile allerdings alle Parteien, wobei die Grünen im | |
Einzelfall (Atomkraft, Stuttgart 21) mehr Konsequenz und Kontinuität an den | |
Tag legen. Wenn sie an der Macht sind, knicken sie aber immer mal wieder | |
ein (siehe Hamburg). | |
Zweitens: "Wahrung der Bürgerrechte". Zwar verzichten die Grünen in der | |
Debatte um Integration und Zuwanderung auf fremdenfeindliche Ressentiments. | |
Für eine konsequente Bürgerrechtspolitik gibt es derzeit aber in keiner | |
Partei, auch bei den Grünen nicht, verlässliche Mehrheiten. Drittens: | |
"soziale Gerechtigkeit durch Teilhabe". Letzteres ist ein papierenes | |
Bekenntnis, das von allen Parteien gratis zu bekommen ist. | |
Fazit: Betrachtet man ihre programmatische Basis, sind die Grünen | |
erfolgreich, obwohl sie nur versprechen, was alle anderen versprechen - | |
und, obwohl sie auch nur schweigen, worüber alle anderen Parteien | |
schweigen. | |
29 Oct 2010 | |
## AUTOREN | |
Rudolf Walther | |
## TAGS | |
Pepe Danquart | |
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