# taz.de -- Debatte Italiens politische Zukunft: Der unmögliche Kandidat | |
> Die alte politische Klasse hat abgewirtschaftet. Da kommt der | |
> Linkspolitiker Vendola als Hoffnungsträger gerade richtig. Doch er ist | |
> katholisch, schwul und für Migranten. | |
Bild: Ein Erdfresser: Nichi Vendola. | |
Italien gleich Berlusconi: Trotz der aktuellen Krise wird es noch eine | |
ganze Weile dauern, bis sich diese Assoziation nicht mehr automatisch | |
einstellt. Doch es gibt einen neuen Mann in der italienischen Politik, der | |
Hoffnungen weckt. Sein Name ist Nicola "Nichi" Vendola, geboren 1958 in | |
Bari. Und wie und wann auch immer es zu Neuwahlen auf dem Stiefel kommt: An | |
und mit ihm wird sich jeder Kandidat für den Posten des Ministerpräsidenten | |
messen müssen. | |
In einem Land, dass sich einen notorisch antikommunistischen, rassistischen | |
und mit einer Neigung zu minderjährigen Frauen versehenen | |
Ministerpräsidenten leistet, ist Vendola eigentlich ein unmöglicher | |
Kandidat. Nichi ist stolz auf seine politische Geschichte in der | |
Kommunistischen Partei, ist offen schwul (und katholisch), und er ist ein | |
"terrone", ein Erdfresser, wie inzwischen auch Funktionäre der Lega Nord - | |
die Berlusconi noch die Stange hält - ganz offen Menschen aus dem Süden des | |
Landes herabsetzend bezeichnen. | |
In einer Gesellschaft, in der der Satz "Besser einen Verbrecher als Sohn | |
als eine Schwuchtel" ungeschriebenes Gesetz ist, hat Vendola sich | |
durchgesetzt, nicht durch politische Wohltaten und persönliche Ausflüchte, | |
sondern indem er alle Prügel, die auf ihn einprasselten, eingesteckt hat. | |
Wo der Konformismus zur Religion geworden ist, da ist Vendola stolz auf | |
sein Anderssein. | |
Sein Programm ist eben, dass man unterschiedlich sein können muss unter | |
Gleichen. Jeder Mensch ist ein Original und verdient Respekt. Vendolas | |
Revolution kommt von unten. Sein ganzes Leben hat er gegen Diskriminierung | |
gekämpft, beim Schwulenverband Arcigay, bei der Liga für den Kampf gegen | |
Aids, als früheres Mitglied der Rifondazione Comunista und anschließend in | |
seiner eigenen Bewegung Sinistra, Ecologia e Libertà (Linke, Ökologie und | |
Freiheit). | |
Als er 2005 zum Präsidenten der Region Apulien gewählt wurde - gegen | |
heftigen Widerstand auch innerhalb der Linken -, hätte wohl kaum jemand für | |
möglich gehalten, dass Vendola sich in einem korrupten politischen Ambiente | |
würde durchsetzen können. Es gelang ihm, weil er niemanden kopiert. Wo | |
Berlusconi sich als autoritärer Heilsbringer für den italienischen | |
Neospießer inszeniert - einen Typus, den er mit seinem Medienimperium | |
wesentlich mitgeprägt, wenn nicht erst erschaffen hat -, folgt Vendola | |
einer Linie, die sich von Gramsci über Pasolini bis in die prekäre | |
Gegenwart zieht. | |
Seine politische Arbeit ist an der Realität orientiert, am soziologischen, | |
ethnologischen und kulturellen Reichtum der Gesellschaft: Immigranten, | |
Homosexuelle, Behinderte, Jugendliche ohne Perspektiven, die in der | |
rabiaten Konsumgesellschaft Italiens nur die Wahl zwischen einem Leben als | |
Kleinkrimineller oder einer miesen Existenz im Callcenter haben. Nichi | |
bricht mit allen Schemata italienischer Politik, nicht nur denen der | |
bigotten Rechten, sondern auch denen der Linken, die weiterhin in ihrem | |
veralteten Apparat und seinen starren Hierarchien verharrt. | |
Anders unter Gleichen | |
Es ist ein Kampf an vielen Fronten, den Vendola führt: Gegen die Festung | |
Europa - und zwar in Apulien, mit seinen langen, nach Süden und zum Balkan | |
hin offenen Küsten, wo Einwanderung keine abstrakte Frage ist. Hier hat | |
Vendola mit dem Regionalgesetz Nr. 32 vom 4. Dezember 2009 ein mutiges und | |
innovatives Zeichen gesetzt. Es garantiert Migranten das Recht auf | |
Integration, und zwar ganz konkret auf soziale Teilhabe, etwa durch Zugang | |
zum Wohnungsmarkt, zu Schulbildung und Berufsausbildung, zu Bankkrediten | |
und medizinischer und sozialer Betreuung. | |
"Die Migranten produzieren gesellschaftlichen Reichtum in unserem Land", | |
hat Vendola am Tag des Inkrafttretens der Norm all jene erinnert, für die | |
Einwanderung sich ausschließlich als Bedrohung darstellt. "Mit diesem | |
Gesetz wird sich der Blick auf die Migration ändern. Sie wird zur | |
Ressource, die wir pflegen müssen, anstatt die Ärmsten weiterhin zu | |
kriminalisieren." | |
Auch in diesem Zusammenhang hat Vendola erfolgreich den Kampf gegen die | |
apulische Mafia aufgenommen. "Wenn die Mafia die Fabriken am Laufen hält | |
und Arbeit schafft, indessen die Politik Arbeitsplätze vernichtet, dann ist | |
der Kampf von vornherein verloren." Konsequent hat Vendola beschlagnahmtes | |
Eigentum der organisieren Kriminalität in kulturell und ökonomisch | |
produktive Zentren investiert, die vor allem Jugendlichen eine Perspektive | |
jenseits von Drogenhandel und Kriminalität bieten. | |
Angst vor Vendolas Erfolg | |
Skandale blieben jedoch auch in Vendolas Umfeld nicht aus, etwa im Bereich | |
des in Italien ganz und gar von Korruption und Vetternwirtschaft | |
durchsetzten Gesundheitswesen. Vendolas Gegenmaßnahmen waren hier | |
eindeutig, er selbst war auch nie Gegenstand von Ermittlungen. Und doch | |
haben sich seit seiner souveränen Wiederwahl in diesem Frühjahr und erst | |
recht, seitdem er einen nationalen Führungsanspruch in der Linken | |
angemeldet hat, die Angriffe gegen ihn verschärft. | |
Warum man Vendola nicht als Kind sich selbst überlassen habe, konnte man in | |
einer katholischen Internet-Rechtspostille lesen, noch besser, die | |
schwangere Mutter habe einen Unfall gehabt. Auf dem politischen Feld wird | |
Vendolas Wirtschafts- und Sozialpolitik kritisiert. Apulien dürfe nicht | |
unser Griechenland werden, polemisiert etwa Berlusconis Wirtschaftsminister | |
Giulio Tremonti - obwohl die Ratingagentur Moody der Region die | |
höchstmögliche Wertung A1 zuerkennt. Doch auch aus dem eigenen Lager kommt | |
Gegenwind. "Vendola als Premier? Ich würde ihn nicht wählen!", ließ die | |
graue Eminenz der Demokratischen Partei der Linken, Massimo DAlema, | |
verlauten. | |
Und er ist nicht der Einzige, dem Vendolas Erfolg Angst macht - und die | |
Liebe und der Respekt, die sich ihm zuwenden, weil er dem Teil des | |
desolaten italienischen Südens, für den er zuständig ist, das Vertrauen in | |
die eigenen Fähigkeiten zurückgegeben hat. Wer das geschafft hat, dem darf | |
man zutrauen, ganz Italien von der Last der Lüge und der vulgären | |
Oberflächlichkeit zu befreien - eben dem Bild, das der Welt seit zu langer | |
Zeit vor Augen kommt, wenn sie an das einstige "Bel Paese" denkt. | |
Übersetzung: Ambros Waibel | |
18 Nov 2010 | |
## AUTOREN | |
Riccardo Valsecchi | |
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