# taz.de -- Interview mit Nadja Benaissa: "Wenige wissen, was HIV bedeutet" | |
> Nadja Benaissa war Sängerin der No Angels. Dann wurde sie als HIV-positiv | |
> zwangsgeoutet und verurteilt. Im taz-Interview spricht sie über diese | |
> Erfahrungen und ihre Pläne für die Zukunft. | |
Bild: Die rote Schleife: Zeichen der Solidarität mit den HIV-Positiven. | |
taz: Frau Benaissa, im Sommer wurden Sie, Exsängerin der No Angels, | |
öffentlich vor Gericht zerrupft und als HIV-positiv geoutet? Wie geht es | |
Ihnen heute? | |
Nadja Benaissa: Ganz gut, ich bin nach Berlin gezogen. Als Teenager habe | |
ich einmal ein halbes Jahr hier gelebt. Das war unschlagbar. Seitdem ist | |
Berlin meine Lieblingsstadt. | |
Hat der Umzug etwas damit zu tun, dass nach dem Prozess nichts mehr war wie | |
vorher? | |
Der Prozess war eine meiner härtesten Erfahrungen. Ich habe mich | |
bloßgestellt gefühlt. Der Gerichtssaal war ein gläserner Käfig. Ich sitze | |
da drin, und alle gucken zu. Ich habe versucht, ruhig zu bleiben, aber das | |
ist einfach so entwürdigend, wenn das ganze Sexualleben vorgeführt wird und | |
die Leute Sachen über einen sagen, ob die stimmen oder nicht. Der Prozess | |
war ja erst vor ein paar Wochen, aber in mir fühlt er sich an wie gelöscht. | |
Ich schau halt jetzt nach vorne. | |
Und löschen geht so einfach? | |
Ich werde das schon aufarbeiten müssen, was in den letzten Jahren passiert | |
ist. Ich wurde ja auch zur Aufarbeitung verurteilt. | |
Sie lachen. | |
Weil es komisch ist, zu einer Therapie verurteilt zu werden. Jetzt setz | |
dich mit dir auseinander und erzähle: Und dann ist das passiert und dann | |
das, und als ich sieben war, war dies, und als ich fünfzehn war, war das, | |
aber vielleicht ist es doch auch ganz anders gewesen. Meine Biografie ist | |
gerade erschienen, wo ich alles aus meinem Leben für die Autorin noch mal | |
erinnern musste und wollte. Im Moment bin ich diese Aufarbeitung schon | |
leid. | |
Sie wurden verurteilt, einen Mann mit HIV angesteckt zu haben? Man sagt, | |
Sie haben Schuld. | |
Ja, ich bin verurteilt, eine vorsätzliche schwere Körperverletzung begangen | |
zu haben. | |
Ist es schwer, damit umzugehen? | |
Ganz unabhängig vom Urteil ist es schwer, damit zu leben. Vor allem, wenn | |
man merkt, dass dieser Mensch damit nicht zurechtkommt. Man geht ja meist | |
von sich aus. Ich konnte mich halt recht gut damit arrangieren, dass ich | |
HIV-positiv bin. Es war nie meine Absicht gewesen, jemanden vorsätzlich mit | |
einer Krankheit anzustecken. Aber bei schwerer Körperverletzung ist es | |
grundsätzlich so, dass der Vorsatz impliziert ist – und, ja, es ist schwer, | |
das hinzunehmen. | |
Welche Reaktionen auf das Urteil gab es? | |
Die meisten Leute verurteilen mich. Dann gibt es welche, die sagen: Da | |
gehören doch zwei dazu. Und es gibt Leute, die nachsichtiger sind. Sie hat | |
einen Fehler gemacht, trotzdem sollte sie jetzt ihr Leben leben dürfen, | |
sagen sie. Ich versuche mich freizumachen von dem, was die Leute denken, | |
weil sich die wenigsten in die Situation von HIV-Positiven reinversetzen | |
können oder wissen, was HIV bedeutet. Die meisten holen sich die | |
Informationen aus der Bild-Zeitung. | |
Da waren Sie der "Todesengel". | |
Nachdem ich aus der Untersuchungshaft entlassen wurde und gemerkt habe, | |
dass das der Tenor war, war ich erst sehr wütend. Dann kam so eine Zeit, wo | |
ich mich selbst für das, was passiert ist, total gehasst habe. Ich – ein | |
Monster. Ich habe mir jegliche Daseinsberechtigung abgesprochen. Aber | |
irgendwann dachte ich: Ich muss lernen, mich mit meinen Fehlern zu | |
akzeptieren. Die Scham wird zwar immer da sein, aber ich kann mich trotzdem | |
lieben. | |
Ist Ihnen das gelungen? | |
Es kommt langsam. Das ganze Thema "HIV und Schuld" und die Frage, "hab ich | |
jemanden angesteckt oder nicht?", das hat vergraben in mir schon lange | |
gebrodelt. Dann kam der Knall, und alles, was ich versucht habe zu | |
verdrängen, war am Licht. Ich kam an meine Grenzen. Ich wusste nicht mehr: | |
Was ist richtig und was falsch, und wo soll ich hin, und was soll ich | |
glauben, und gibt es überhaupt noch eine Perspektive für mich, und wie soll | |
ich jetzt weiterleben? Dann konnte ich nicht mehr und bin | |
zusammengebrochen. Da habe ich mir Hilfe geholt. | |
Welche Hilfe? | |
Eine Frau, die Coaching macht. Mit der habe ich die schwersten Themen | |
angesprochen, und da haben wir es mit vielen Ritualen geschafft, dass ich | |
mich selbst besser annehmen konnte. | |
Konnten Sie auch eine Zukunftsperspektive entwickeln? | |
Nach der Urteilsverkündung hatte ich noch einmal so ein Down. Ich dachte: | |
Alles ist kaputt in meinem Leben, nichts geht mehr, und was soll ich hier, | |
am liebsten würde ich auswandern. Das war die Erschöpfung, nehme ich an. | |
Dann habe ich mich auf neue Ziele konzentriert. Zuerst Berlin. Und ich will | |
wieder Musik machen. Nicht weil ich einen Hit möchte, sondern weil ich gern | |
singe. Das gibt mir Kraft. Aber dass ich eigenständig lebe, dass ich selbst | |
bestimme, wo ich wohne, was ich mache, wohin ich gehen möchte mit meiner | |
Tochter, das ist gerade das Schönste. | |
Glauben Sie, dass Sie als Sängerin überleben können? | |
Kommt immer darauf an, was man für einen Anspruch hat. Aber solange ich die | |
Möglichkeit habe, mich mit meiner größten Leidenschaft, der Musik, zu | |
versorgen, werde ich das versuchen. | |
Sie wollen Rio Reiser singen? | |
Er spricht mir aus der Seele: "Wenn niemand bei dir ist und du denkst, dass | |
keiner dich sucht, und du hast die Reise ins Jenseits vielleicht schon | |
gebucht, und all die Lügen geben dir den Rest: Halt dich an deiner Liebe | |
fest." – Reisers Texte, Melodien und seine Stimme bewegen mich sehr. Ich | |
denke, uns verbinden dunkle Geheimnisse und Erfahrungen, ob nun finanziell, | |
ob mit Managern oder der Liebe. | |
Was sind die Stärken der neuen Nadja Benaissa? | |
Die größte Stärke ist, dass ich jetzt Verantwortung übernehme für mein | |
Leben. | |
Haben Sie das vorher nicht gemacht? | |
Ich war überfordert, ich konnte das nicht mehr. Ich habe viel geleistet und | |
geschafft. Ich habe meinen Job professionell gemacht, mich um mein Kind | |
gekümmert. Aber mit einigem war ich komplett überfordert, ob das der | |
Papierkram war oder die Einsicht in das, was mein Management tut. | |
Was möchten Sie auf gar keinen Fall mehr erleben? | |
Ich möchte nicht mehr in so eine extreme Maschinerie geraten, die so einen | |
Riesenhype auslöst - super erfolgreich, super berühmt. Ich möchte eine | |
Mitte finden. | |
Ist nicht genau die Mitte das Problem? Nach allem, was von Ihnen bekannt | |
ist, wirkt es so, als suchten Sie die Extreme. | |
Es stimmt, ich habe mich bisher von einer Katastrophe in die nächste | |
gelenkt. Trotzdem habe ich mich immer nach der Mitte gesehnt. Jetzt habe | |
ich so viel aufgeräumt, dass ich erst die Voraussetzungen habe für ein | |
normales Leben. Vielleicht ist das für andere immer noch extrem, aber mir | |
kommt es im Moment vor, als wäre mein Leben fast spießig. | |
Im Prozess wurden Ihre intimsten Erfahrungen öffentlich gemacht. Mit wem | |
Sie wie oft im Bett waren. Ihre Drogensucht, Ihre frühe Schwangerschaft, | |
Ihre HIV-Infektion. Jetzt legen Sie mit einer Biografie nach. Warum so | |
schnell dieses Buch? | |
Nach all den Spekulationen hat sich ein Bild von mir eingeprägt: | |
HIV-Infizierte, Straftäterin, jugendliche Drogenabhängige. Zuletzt wurde | |
lanciert, dass ich auf dem Strich war. Da war es mir wichtig, selbst mal | |
meine Geschichte zu erzählen. | |
Hat Ihre Perspektive auf Ihr Leben bisher denn gefehlt? | |
Ja. | |
Verstehen Sie selbst, warum Sie als Teenager außer Rand und Band gerieten? | |
Der Bruch kam, als ich vom Mädchen zur Frau wurde. Mit elf, zwölf fing das | |
an. Ich war als Kind total auf meinen Papa fixiert. Und er auf mich. Aber | |
meine körperliche Entwicklung in der Pubertät hat ihn überfordert. Er | |
konnte mich nicht mehr in den Arm nehmen, mich nicht mehr richtig angucken, | |
und ich habe mich abgelehnt gefühlt. Ich war kein typisches Mädchen, ich | |
habe Basketball gespielt, in einer Rockband gesungen, mir meine Hosen | |
zerrissen - für ihn war das alles schlimm. Alles, was ich machte, hat bei | |
ihm eine negative Reaktion ausgelöst. Alles, was er gesagt hat, hat bei mir | |
eine negative Reaktion ausgelöst - bis zu Hause nur noch Stress und Drama | |
war. | |
Ihre Mutter konnte nichts entgegensetzen? | |
Nein. Meine Eltern waren immer eher eine Einheit. Mein Bruder gehörte auch | |
dazu. Ich habe mich gefühlt wie das schwarze Schaf. | |
Was Sie aber nicht waren. | |
Es hat sich so angefühlt. Andere Kinder hätten vielleicht geschmollt, ich | |
habe rebelliert. Ich habe früh angefangen zu rauchen. Wenn meine Eltern das | |
gemerkt haben, gab es wieder Stress. Dann kam Alkohol dazu, dann das | |
Kiffen. Alles in kurzer Zeit, ohne dass meine Eltern das richtig | |
mitbekamen. Sie haben viel gearbeitet, damit es uns gut geht. Irgendwann | |
geriet ich an die ganz falschen Leute, wo Kokain dazukam und Crack. Durch | |
die Drogen war ich nicht mehr in der Lage, mich an Absprachen zu halten. | |
Das haben meine Eltern wieder nicht verstanden, dann gab es noch mehr | |
Stress, bis ich gar nicht mehr nach Hause bin. Dann habe ich immer mehr | |
Drogen konsumiert, um die Gewissensbisse zu vergessen. | |
Ihr Vater ist gebürtiger Marokkaner. Ihre Mutter | |
serbisch-jugoslawisch-deutsch. Sie sind von mindestens drei Kulturen | |
beeinflusst. Woran haben Sie sich orientiert? | |
Orientieren konnte ich mich an nichts. Ich bin keine Marokkanerin, ich habe | |
zwar viel mitbekommen von diesem Temperament, aber ich werde in Marokko | |
niemals als Marokkanerin akzeptiert. Ich spreche auch kein Arabisch. Die | |
serbische Familie wiederum lebt schon lange in Deutschland, da fühle ich | |
mich zwar zugehörig, aber es ist auch nicht mein Weg. Und der deutsche Weg | |
funktioniert auch nicht wirklich. Ich habe versucht, ein eigenes Bild zu | |
entwickeln, ein Mischmasch. Ich habe die Vielfalt ja immer als Bereicherung | |
verstanden: ein Wochenende bei der Kopftuchoma, am anderen kommt die | |
serbische Großmutter und macht Käsestrudel - so was ist schön. All diese | |
Einflüsse haben mich zu einem toleranten Menschen gemacht. | |
Sie sind in Langen bei Frankfurt aufgewachsen. Wie wurden Sie von Ihrer | |
Umgebung gesehen? | |
Ich war Ausländerin. Aber ich war in Ordnung, wie gern gesagt wird. | |
War das eine Kränkung? | |
Sicher, ich habe mich ja immer als Deutsche gefühlt. Aber das ist eine so | |
leidige und schreckliche Diskussion. Heute ist man nicht Ausländerin, dafür | |
hat man einen Migrationshintergrund. Genau damit ist man dann aber doch | |
wieder als Ausländerin gebrandmarkt. Früher war das für mich echt komisch, | |
weil ich mich als Deutsche gesehen habe und dann diese Ausgrenzungen | |
erlebte. Sei es auf dem Spielplatz, du rennst dem Ball hinterher und jemand | |
schreit, geh dahin, wo du herkommst. Ich war ein wehrhaftes Kind. Ich habe | |
mich hingestellt, Hände in die Hüften, und geschrien: Ich komme genauso aus | |
Deutschland wie Sie. | |
Wurde es mit Ihrem Vater auch deshalb schwierig, weil er ein traditionell | |
orientalisches Frauenbild mitbrachte? | |
Absolut. Meine Mutter ist eine moderne Frau, selbstständig, selbstbestimmt | |
- und so wurde ich auch erzogen. Und dann kam dieser Bruch mit elf, zwölf | |
Jahren, als mein Vater, wie mir schien, so ein Urmensch wurde. Was machst | |
du? Wohin gehst du? Du willst dich mit Jungs treffen? Er unterstellte mir | |
Sachen, die ich gar nicht im Kopf hatte. Er war total eifersüchtig und hat | |
mir harte Regeln gesetzt, aber meinem Bruder überhaupt nicht. Ich war immer | |
ein wildes Kind, das auf Bäume kletterte, und auf einmal schiebt mein Vater | |
mir einen Riegel vor. Er war überfordert. Er hatte einfach Angst um mich. | |
Heute verstehe ich es, weil ich weiß, wie er aufgewachsen ist als Ältester | |
von zwölf Geschwistern. Auf ihm lag die Verantwortung für die Familie in | |
Marokko, weil sein Vater als Gastarbeiter nach Deutschland gegangen war. | |
Ihr Vater ist nicht in Deutschland aufgewachsen? | |
Er kam erst mit siebzehn nach Deutschland. | |
Für Eltern ist ja auch wichtig, wie man von außen gesehen wird. | |
Oh, das war ein zentraler Punkt; Was denken die anderen? Das ist mir zu den | |
Ohren rausgekommen. Mein Vater war ja wirklich Tellerwäscher, der sich | |
hochgearbeitet hat zum Restaurantbesitzer mit Kontakt zu den | |
einflussreichen Leuten der Stadt. Es war ihm ganz wichtig, was andere Leute | |
denken. Sie sind ihm wichtiger als ich, dachte ich. Das hat so viel Trotz | |
in mir geweckt. | |
Wann haben Sie gemerkt, dass Sie ihm am wichtigsten sind? | |
In der Zeit meiner Drogensucht hat er sich total verändert. Er hat gesehen, | |
dass er mich verliert, dass ich körperlich zugrunde gehe. Da war ihm | |
plötzlich egal, was andere sagen. Das konnte ich damals natürlich nicht | |
wahrnehmen. Meine Eltern haben alles versucht, dass es gut wird, aber gegen | |
die Drogensucht waren sie machtlos. Mein Vater hat mich nie aufgegeben und | |
steht immer zu mir. Das macht mich auch so stark. | |
Gab es in Langen keine Sozialarbeiter oder sonst wen, der Sie unterstützt | |
hat oder der Sie noch hätte erreichen können? | |
Nein, aber ich habe mich auch isoliert. | |
Sie haben alles verneint. | |
Ja, alles. Das fing früh an, dass ich über Sachen nachgedacht habe, die | |
mich belasteten: arm und reich, schwarz und weiß, was passiert in Afrika, | |
was passiert mit den Tieren, mit der Welt? Ich habe nicht darüber geredet, | |
was mich bedrückt. Meine Eltern haben das als Ablehnung empfunden. Es gab | |
so viel, was gleichzeitig passierte und worüber ich nicht reden konnte. Wir | |
waren ja nach außen eine Musterfamilie. Die Rüschenbluse gebügelt, die | |
Lackschuhe poliert - das war immer ganz wichtig. Meine Eltern wollten | |
zeigen: Wir sind nicht irgendwelche Kanaken - niemand soll das denken. | |
Deshalb sind wir alle sehr starr, wie wir unseren Weg nach oben gehen. | |
Und warum, glauben Sie, haben Sie auch den Bezug zu Ihrem Körper verloren? | |
Ich kann nicht erklären, wie so was kommt. Vielleicht ist es einfach so: | |
Ich bin da zwar rein-, aber nicht mehr rausgekommen. Ich war immer in so | |
einer grundmelancholischen Stimmung, und Drogen haben das noch verstärkt. | |
Dann habe ich Tracy Chapman gehört und vielleicht noch Rotwein getrunken - | |
ich war für mich allein in meiner Welt. | |
Glauben Sie, wenn man verstehen würde, was ein Teenager wie Sie erlebt, | |
kann man lernen, was an der Integrationsdebatte falsch ist? | |
Drogenprobleme gibt es in vielen Familien, egal aus welcher Kultur. Meine | |
Konflikte haben begonnen, als ich in die Pubertät kam. Ich glaube, dass ich | |
gut integriert war, allein schon weil Deutsch meine Muttersprache ist. Wenn | |
ich meine Kindheit und Jugend mit dem Leben meiner marokkanischen Cousinen | |
vergleiche, dann war ich ein total freier Mensch. Ich musste nie diese | |
absolute Kontrolle der Familie erleben. Trotzdem musste ich kämpfen, um | |
mich emanzipieren zu dürfen als junges Mädchen, junge Frau. Es ist für mich | |
der absolute Horror, mir vorzustellen, dass mein Leben von anderen bestimmt | |
wird und ich keine Rechte habe. | |
Gleichzeitig haben Sie sich bestimmen lassen von Drogen, von Drogendealern. | |
Ja, das ist ein Widerspruch. Aber das war die Sucht. Da war ich auch nicht | |
mehr ich. Und danach kamen die No Angels, und auch das war wieder | |
fremdbestimmt. Ich habe meine Zeit gebraucht, um zu begreifen, dass ich so | |
nicht glücklich bin. | |
War No Angels auch Droge? | |
Nein, eher ein Pflichtgefühl. Man hatte keine große Wahl. Entweder man | |
macht mit oder nicht. Vorher war ich Sozialhilfeempfängerin, Schülerin, | |
HIV-positiv. Die Leute haben schlecht über mich geredet. Und dann war ich | |
No Angels. Plötzlich hatte ich Erfolg, verdiente viel Geld. Ich hatte das | |
Gefühl, ich kann etwas erreichen, ich kann meiner Familie etwas zurückgeben | |
und den Grundstein für meine Tochter legen. Das ist aber nach hinten | |
losgegangen. Das Geld war irgendwann komplett weg. Das Pflichtgefühl den | |
anderen gegenüber war aber noch da. Jedes Jahr haben wir uns gefragt: | |
Machen wir weiter? Ja? Nein? Einmal habe ich nein gesagt und wurde gelockt: | |
Wir gehen nach Miami, du kannst deine Familie mitnehmen, wir machen ein | |
Album. Sodass man nicht nein sagen kann als Neunzehn-, Zwanzigjährige. | |
Wie haben Sie das alles weggesteckt, was noch dranhing, die Erpressung | |
durch die Medien, die Sie als HIV-positiv outen wollten, die falschen | |
Manager? | |
Ich will eigentlich rausschreien, wie beschissen das alles war, aber es ist | |
auch so, dass ich mich jetzt befreiter fühle. Die Angst ist weg: Was | |
passiert? Komme ich ins Gefängnis? Was wird sein? – Ich war doch gar nicht | |
mehr anwesend. Über meine HIV-Infektion zu schweigen ist mein gutes Recht. | |
Ich hätte noch weiter geschwiegen, wenn ich nicht geoutet worden wäre. Aber | |
jetzt habe ich viel mehr das Gefühl: Ja, das bin ich. Akzeptiert mich oder | |
nicht! Ich kann viel selbstbewusster sagen, was ich denke. Das war vorher | |
nicht möglich. Vorher musste ich immer darauf achten, so beliebt wie | |
möglich zu sein. | |
Sie wurden zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt, und Sie müssen 300 | |
Stunden in einem Aids-Hospiz ableisten. | |
Ja, das ist schwer, dass man mich verurteilt hat, im Hospiz zu arbeiten. | |
Ich soll lernen, was ich den anderen angetan habe, was es bedeutet, krank | |
zu sein, wie man an Aids stirbt. Ich bin HIV-positiv, ich weiß, was das | |
ist. Um gegen eine Krankheit zu kämpfen, muss man sich stark fühlen. Ich | |
gehe aber trotzdem gern ins Hospiz. Ich bin ein Mensch, der das kann. | |
Dieser ganze Prozess hat mich verändert. Vorher habe ich immer geglaubt, | |
dass ich nicht krank werde. Ich nehme meine Medikamente, und ich werde Oma, | |
und alles wird gut. Wenn aber immer gesagt wird, dass man krank sei, und – | |
wie im Prozess immer wieder gesagt wurde - dass Aids nach zwanzig Jahren | |
auf jeden Fall ausbricht, dann werde ich krank, dann bekomme ich Angst. | |
Trotzdem hab ich mich fürs Hospiz entschieden. Die Alternative wäre | |
Aufklärung in Schulen gewesen. Aber im Moment ist mir das über: "Ah, No | |
Angels, ah daylight." Ich kann das grad nicht. | |
1 Dec 2010 | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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