# taz.de -- Umgang mit HIV-Kranken: Der Irrglaube an die gerechte Krankheit | |
> Die Forschung nähert sich einem Impfstoff gegen Aids. Mit ihm wäre die | |
> Gesellschaft endlich davon befreit, ihre Panik zu verdrängen. | |
Bild: Leider noch immer nötig: Anti-Diskriminierungskampangen wie diese mit Mi… | |
Das Oberhaupt der katholischen Kirche in Belgien, Bischof André-Joseph | |
Léonard (71), verkündete unlängst im Zusammenhang mit Homosexuellen: "Aids | |
könnte eine Art von immanenter Gerechtigkeit für den Missbrauch der Liebe | |
sein." Ein Unbekannter warf ihm daraufhin eine Torte ins Gesicht, was den | |
Bischof unbeeindruckt ließ: "Die Torte hat richtig gut geschmeckt", sagte | |
er fidel. Es muss schön sein, sich seiner Sache so sicher zu sein. | |
Der Normalbürger sagt solche Sachen nicht, er denkt sie bloß häufig. Denn | |
Aids gilt ihm trotz aller Aufklärung noch immer als schuldhaft erworbene | |
Krankheit. Ähnlich wie im Falle eines Raucherkarzinoms müssen Betroffene | |
mit einem achselzuckenden "Selbst schuld" rechnen. | |
Allerdings ist die hinter der Erkrankung vermutete "Schuld" weit brisanter | |
als der Genuss von Zigaretten. Das HI-Virus wird in den meisten Fällen | |
durch Geschlechtsverkehr übertragen. Womöglich auch noch über Analverkehr. | |
Unter Männern. Zwischen Mann und Frau. Es ist unaussprechlich. | |
Und wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man dann wohl schweigen. | |
Die liebsten Aidskranken sind den Karitativen deshalb kleine Kinder, da | |
diese noch im Stand der Unschuld stehen. Vielleicht auch Frauen, die | |
unwissentlich von ihren Ehemännern angesteckt wurden - die lädt man gerne | |
mal in die Talkshow. | |
Andere Betroffene - Schwule, bisexuelle Migranten, Prostituierte und ihre | |
Kunden, Normalos von nebenan, Drogenabhängige - würden gar nicht in eine | |
Talkshow kommen. Sie liefen nämlich Gefahr, fürderhin angstvoll gemieden zu | |
werden. Denn die Mehrheit ist auch im Jahr 2010 noch immer überfordert, | |
wenn sie auf HIV-Positive trifft. | |
Der Stand des Wissens scheint stehen geblieben zu sein. Es ist, als ob Lea | |
Rosh erst gestern beherzt aus dem Glas eines Infizierten getrunken hätte - | |
in einer Talkshow, die Nation schockend. | |
Man weiß zwar, dass es zumindest in den westlichen Ländern längst ein | |
"Neues Aids" gibt - dank der seit Mitte der Neunziger verbreiteten | |
Medikation hat sich die früher meist tödlich verlaufende | |
Immunschwächeerkrankung zu einer chronischen Erkrankung gewandelt. | |
Geblieben ist jedoch die Stigmatisierung der Betroffenen. | |
Zur Entwicklung des "Neuen Aids" gehört, dass die Schuld bei einer | |
Übertragung des Virus nicht mehr auf den Schultern der einvernehmlich | |
sexuell Agierenden verteilt wird, sondern eindeutig bei den Infizierten | |
liegt. Galten noch bis vor kurzem die Regeln des eigenverantwortlichen | |
Safer Sex - mit der Verpflichtung, sich selbst und andere zu schützen -, | |
ist seit der Verurteilung der früheren No-Angels-Sängerin Nadja Benaissa | |
klar: Schuld sind nun die Infizierten alleine. | |
Einen Ausweg aus diesem Horror verspricht nun die gerne verteufelte | |
Gentechnik. Im Rahmen einer umfassenden Studie hat ein Forscherteam aus | |
Harvard das Erbgut von fast 1000 HIV-Controllern - Menschen, die auch ohne | |
Medikamente und Behandlung nicht an Aids erkranken - und 2.600 anderen | |
HIV-Patienten untersucht. | |
Identifiziert wurden nun endlich jene Bausteine des menschlichen Genoms, | |
die für die Resistenz gegenüber dem HI-Virus verantwortlich sind. Ein | |
großer Schritt in Richtung der Entwicklung jenes Impfstoffs, an der sich | |
die Forschung schon seit Jahren die Zähne ausbeißt. Die Ergebnisse der | |
Studie wurden in der aktuellen Ausgabe des Magazins Science veröffentlicht. | |
Falls es irgendwann klappen sollte, wird das ein trauriger Tag für jene, | |
die an die "immanente Gerechtigkeit" einer Krankheit glauben. Die | |
Gesellschaft insgesamt könnte jedoch aufatmen. Niemand würde mehr merken, | |
dass sie sich als unfähig erwiesen hat, mit dieser Krankheit zivilisiert | |
umzugehen. Sie wäre erlöst. | |
9 Nov 2010 | |
## AUTOREN | |
Martin Reichert | |
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