# taz.de -- HIV-Positive auf dem Zahnarztstuhl: Die Hysterie der Ärzte | |
> Eine Zahnärztin wirft ihren Patienten aus der Praxis, als sie von seiner | |
> HIV-Infektion erfährt. Ein Einzelfall? Laut Aidshilfe haben viele | |
> Mediziner unbegründete Ängste. | |
Bild: ÄrztInnen sollten mit dem Ansteckungsrisiko halbwegs rational umgehen k�… | |
Die Stimme kommt von schräg hinten, laut und schneidend. Stefan Neumann*, | |
36, liegt auf dem Zahnarztstuhl, die Betäubung hat sich im Kiefer | |
ausgebreitet. Der kaputte Backenzahn soll gezogen werden, unter der Krone | |
war nichts mehr zu retten. Doch hinter ihm in der Tür steht die Zahnärztin | |
mit seiner Akte in der Hand und klingt empört: „Herr Neumann, das habe ich | |
ja gar nicht gewusst, dass Sie Aids haben. Das habe ich gerade erst | |
gelesen. Ich kann Sie nicht weiterbehandeln. Das ist mir viel zu | |
gefährlich. Ich könnte mich ja verletzen und dann stecken Sie mich auch mit | |
Aids an.“ | |
Schock. Mit taubem Mund erklärt Herr Neumann, dass seine Infektion lange | |
bekannt sei. Dass er in Behandlung sei. Die Viruslast sei unter der | |
Nachweisgrenze, sie könne ja den Hausarzt anrufen. Mit den anderen | |
Zahnärzten der Praxis gab es nie Probleme, sie tragen schlicht den | |
vorgeschriebenen Hygieneschutz. | |
Aber Frau Dr. V. ist neu. Er solle gehen, sagt sie laut, jetzt gleich, | |
seine Jacke nehmen und gehen. Das Papiertuch reißt sie ihm vom Hals. | |
Benommen steht Neumann auf. Jetzt bemerkt er die offene Tür und die anderen | |
Patienten draußen im Wartebereich, die offenbar alles mitgehört haben. | |
Neumann taumelt aus der Praxis, draußen sacken ihm die Beine weg. Die | |
Betäubung wirkt. | |
Aids ist in vielen Fällen zur unsichtbaren Krankheit geworden. Menschen wie | |
Stefan Neumann leben ganz normal, mit einer gehörigen Tagesdosis | |
antiviraler Mittel, aber symptomfrei. Wie ansteckend sie noch sind, ist | |
umstritten. Die Angst vor Aids aber ist immer noch da. Und auch | |
medizinisches Personal hat sie. | |
Outen – oder nicht? | |
Stefan Neumann ist wütend. Es sei ja immer die Frage: Oute ich die | |
Infektion, oder tue ich es nicht, weil die Reaktionen unkalkulierbar sind? | |
Für ihn war bisher klar: Die Ärzte sollen Bescheid wissen. „Hätte Dr. V. | |
mir einfach erklärt, dass sie leider zu große Ängste hat und mich lieber an | |
einen anderen Arzt abgibt: Alles wäre in Ordnung gewesen, das kann ich | |
verstehen. Aber diese Demütigung? Wie sollen denn HIV-Patienten nach | |
solchen Erfahrungen noch ehrlich sein?“ HIV-Positive können viel erzählen | |
über Ängste der Umwelt, wenn sie von der Infektion erfährt. Viele erwähnen | |
sie deshalb so selten wie möglich. | |
ÄrztInnen sollten mit dem Ansteckungsrisiko halbwegs rational umgehen | |
können. Aber nicht selten würden HIV-Positive gesondert oder gar nicht | |
behandelt, erklärt Jens Ahrens von der Berliner Aidshilfe. Zahnärzte legen | |
HIV-Patienten gern ans Ende der Sprechstunde, weil man danach angeblich | |
alles besonders gründlich desinfizieren muss. | |
Eine Reihe von Ärzten verweigert die Behandlung ganz. Mehrmals pro Jahr | |
hört die Aidshilfe Beschwerden von PatientInnen, überdurchschnittlich oft | |
sind es Beschwerden über Zahnärzte. Aber dass eine Behandlung derart | |
abgebrochen wird? „Das ist schon ein besonders krasser Fall“, so Ahrens, | |
„Zahnärzte sollten eigentlich besser aufgeklärt sein.“ | |
Auch die Zahnärztekammer spricht von „unbegründeten Ängsten“, die nach w… | |
vor in der Öffentlichkeit herrschten. „Das ist in der Ärzteschaft in | |
Einzelfällen nicht anders“, so Karsten Heegewaldt von der Zahnärztekammer | |
Berlin. Dabei sei längst bekannt, dass die üblichen hygienischen Maßnahmen | |
auch bei HIV völlig ausreichten. | |
„Es gibt ja viel ansteckendere Infektionskrankheiten wie etwa Hepatitis“, | |
erläutert Heegewaldt. Auch kann eine Infektion vorliegen, von der der | |
Patient selbst nicht weiß oder die er verschweigt. Deshalb kläre die Kammer | |
die Praxen regelmäßig über Hygienemaßnahmen auf. „Wer dann immer noch nic… | |
mit seinen Ängsten klarkommt, muss das vor der Behandlung sagen. Wir haben | |
für solche Fälle eine Liste mit Ärzten, die ausdrücklich bereit sind, | |
HIV-Patienten zu behandeln“, so Heegewaldt. | |
Die Ängste mancher MedizinerInnen kommen nicht ganz von ungefähr. | |
Handschuhe nützen nichts, wenn man sich an einer Kanüle sticht oder das | |
Skalpell abrutscht. Bei einer amerikanischen Untersuchung gab etwa die | |
Hälfte aller ÄrztInnen an, sich im vergangenen Jahr geschnitten oder | |
gestochen zu haben. Wenn sich dann die Vermutung ergibt, dass der Patient | |
eine ansteckende Krankheit hat, müssen Ärzte sich mit einer vorbeugenden | |
Behandlung auseinandersetzen. | |
Im Fall von HIV ist innerhalb von zwei Stunden eine | |
Post-Expositions-Prophylaxe (PEP) möglich: Antiretrovirale Medikamente | |
sollen verhindern, dass das Virus in Wirtszellen eindringt. Aber die | |
Gefahr, sich überhaupt an einer HIV-Spritze zu infizieren, liegt laut | |
Experten nur bei unter 1 zu 100. Generell ist es selten, dass | |
MedizinerInnen sich im Job infizieren: Nur 1 Prozent der HIV-Positiven in | |
Medizinberufen hat sich laut einer US-Studie im Job infiziert. | |
Das Verhalten von Frau Dr. V. wirft deshalb auch rechtliche Fragen auf. Da | |
wäre zum einen das Berufsrecht. Ein Arzt kann zwar die Behandlung eines | |
Patienten ablehnen, solange kein Notfall vorliegt. Aber eine Krone vom Zahn | |
abheben, eine Spritze setzen und plötzlich die Behandlung abbrechen? Das | |
gehe nur, wenn ein „berechtigter Anlass“ besteht, so die | |
Kassenzahnärztliche Vereinigung (KZV) in einer schriftlichen Stellungnahme. | |
Ein solcher wäre etwa eine eigene Krankheit, die ein erhöhtes | |
Ansteckungsrisiko mit sich brächte. | |
Davon aber hat Frau Dr. V. nicht gesprochen. „Sie hat mich vielmehr wie ein | |
Kind, das bestraft gehört, aus der Praxis geschickt“, so Neumann. Ohne | |
„berechtigten Anlass“ wäre Dr. V.s Handeln laut KZV „als unterlassene | |
Hilfeleistung zu bewerten“. Auch könnte der Patient auf dem Weg des | |
Strafrechts eine „leichte Körperverletzung“ anzeigen, weil er in das Setzen | |
der Spritze nur als Teil der Behandlung eingewilligt hat. Ein findiger | |
Anwalt würde wohl noch das „Aussetzen einer hilflosen Person“ prüfen | |
lassen, heißt es bei der Aidshilfe. | |
Problematisch ist auch, dass Frau Dr. V. ihre Ablehnung des Patienten | |
lautstark in der Praxis verkündet hat. Das wäre nicht nur ein Bruch der | |
ärztlichen Schweigepflicht, sondern strafrechtlich auch eine Beleidigung. | |
Einen weiteren Ansatzpunkt sieht die Landesstelle für Gleichbehandlung: das | |
Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Laut einem Gutachten der | |
künftigen Verfassungsrichterin Susanne Baer von 2009 kann eine | |
HIV-Infektion als „Behinderung“ im Sinne des AGG interpretiert werden. Dann | |
wäre Neumann wegen seiner Behinderung diskriminiert worden und könnte vor | |
Gericht eine Entschädigung erstreiten. Ob man das AGG so auslegen kann, | |
müssten die Gerichte klären, einschlägige Urteile gibt es noch nicht. „Wir | |
würden das gern mal in einem Präzedenzfall wie diesem prüfen lassen“, sagt | |
Vera Egenberger vom „Büro zur Umsetzung von Gleichbehandlungsfragen“. | |
Stefan Neumann hat sich erst einmal erholt – und den Zahn in einer anderen | |
Praxis ziehen lassen. Dr. V. hat sich nicht mehr gemeldet. Dafür rief der | |
Praxisleiter mehrmals an und entschuldigte sich wortreich. Neumann solle | |
doch auf jeden Fall wiederkommen, es müsse nun ja über ein Implantat als | |
Zahnersatz gesprochen werden. „Das kann ich mir nicht leisten“, sagte | |
Neumann. Er wolle mit seiner Zahnlücke weiter leben. Und auch, dass er | |
zunächst lieber nicht mehr in die Praxis käme. Gegenüber der taz wollte | |
sich Frau Dr. V. laut ihrem Anwalt nicht äußern. | |
Die Zahnärztekammer hat ein Schlichtungsverfahren eröffnet und Frau Dr. V. | |
um eine Stellungnahme gebeten. Es kann zum Disziplinarverfahren kommen, das | |
mit einem Verweis, einer Verwarnung oder einer Geldbuße enden könnte. | |
Stefan Neumann wartet eigentlich nur auf eines: eine ernst gemeinte | |
Entschuldigung. „Ich hätte alles verstanden, wenn es in verbindlichem Ton | |
gekommen wäre. Aber dieser Ton, dieser öffentliche Rauswurf, als hätte ich | |
ihr etwas angetan mit meiner Krankheit? Das war einfach nur demütigend.“ | |
Bisher hat er von Dr. V. nichts gehört. | |
*Name geändert | |
1 Dec 2010 | |
## AUTOREN | |
Heide Oestreich | |
## TAGS | |
Schwerpunkt HIV und Aids | |
Krankheit | |
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