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# taz.de -- Debatte Wikileaks: Die Legende vom Hl. Julian
> Bedrohen dunkle Mächte den Freiheitskämpfer Julian Assange? Selten war
> eine politische Debatte so getränkt mit den Mythen der Popkultur.
Bild: Popstar, Messias der Meinungsfreiheit oder Gauner? Julian Assange bastelt…
Der Hacker und der Tod gehören zusammen. Seit Wikileaks-Mitgründer Julian
Assange die Bühne der Weltöffentlichkeit betreten hat, gehört die Aussage,
ihm könne jederzeit etwas zustoßen, zu seinem Repertoire. In den Räumen des
Netzes wird diese These beständig ventiliert, in fast allen großen Medien
stand sie schon.
Dabei haben in den USA doch vor allem zwielichtige Politiker wie William
Kristol und eher marginale konservative Hatzmedien wie die Washington Times
- nicht Post - gefordert, ihn wie einen Terroristen zu behandeln und ihn zu
töten. Warum glauben viele seiner Anhänger tatsächlich, Assange könnte
ermordet werden? Und das nicht in einer zentralasiatischen Diktatur,
sondern in Europa oder Nordamerika.
Die Angst um Assange und die Verehrung für ihn hängen zusammen, beide sind
Teil des Mythos, an dem er selbst und andere kräftig mitarbeiten. Was davon
bewusst geschieht und was nicht, lässt sich kaum auseinanderhalten. Aber
Assanges Erzählung ist anschlussfähig an Agentengeschichten,
Monstergeschichten - weil Monster und Popstar, wie bei Michael Jackson zu
beobachten, zwei Seiten derselben Figur sind - und an die Legenden einer
künstlerischen Strömung, die heute meist als Cyberpunk firmiert.
Die böse Matrix
In den 1980ern und 1990ern am populärsten, beschreibt Cyberpunk eine
zukünftige Welt, die in etwa so aussieht, als würde Franz Kafka unsere
Gegenwart durch eine sehr dunkle Sonnenbrille im Schein einer Neonlampe
betrachten. Die Konzerne haben mehr Macht als die meisten Staaten, sie
kontrollieren mit ihren Armeen die Straßen. Die Unterschiede zwischen
Diktaturen und Demokratien sind nicht groß. In dieses Bild passt aktuell,
dass die westlichen Staaten, insbesondere die USA - mit der Irakkriegslüge,
Abu Ghraib und Guantánamo - viel moralischen Kredit verspielt haben.
Im Cyberpunk-Szenario werden die Menschen in riesigen Städten von
ausgeklügelter Technik überwacht. Freiheit gibt es hier nur in den
Gegenden, die heruntergekommen, umweltverseucht oder anderweitig
unprofitabel sind. Oder: im Netz.
Hier im Cyberspace, in der Matrix - beides vom als prototypisch gehandelten
Cyberpunk-Schriftsteller William Gibson geprägte Begriffe - können Frauen
und Männer den Konzernen Paroli bieten, ihnen sogar richtig schaden, wenn
sie nur die Technik beherrschen und sie kreativ nutzen. Wie Magier können
sie dann kraft ihres Geistes Mächte besiegen, die physisch viel stärker
sind als sie. Natürlich haben die Mächtigen auch im virtuellen Raum die
größeren Ressourcen, und wer nicht aufpasst, dem rösten bösartige
Killercodes das per Datenkabel mit dem Netz verbundene Hirn. Aber die
Schlauen, die Genies, überleben lange.
Weitaus gefährlicher kann dem körperlich oft eher fragilen Hacker, Decker,
Konsolen-Cowboy die Realität außerhalb der Matrix werden. Deswegen bewacht
ihn bei seiner Mission meist ein erfahrener Kämpfer, in Gibsons Roman
"Neuromancer" heißt so jemand "Straßensamurai". Es ist ein interessantes
Detail, dass Wikileaks-Aussteiger Assange vorwerfen, er gebe zu viel vom
Spendengeld der Enthüllungsplattform für Bodyguards aus. Sie deuten das als
weiteres Zeichen der Selbststilisierung.
Nun haben Assanges Anhänger nicht alle William Gibsons Bücher gelesen,
Rollenspiele gespielt und Cyberpunk-Filme geschaut. Aber diese Kunstwelt
ist wie eine Grundierung auf der Leinwand der Popkultur, die durch das
jeweils neueste darauf gemalte Bild durchschimmert: Wenn ein Julian Assange
auftaucht, dann erkennen seine in der Zeit der Legenden aufgewachsenen Fans
diese Grundierung. Er selbst wiederum, in den 80ern ein Teenager und später
Hacker, kennt diese Erzählungen natürlich auch.
Sie sind ein stetes Rauschen wie bei den alten Radios in russischen Hotels,
die man leiser drehen kann, aber nicht abschalten. Die Filmtriologie
"Matrix" war ein überlautes Anschwellen dieses Rauschens, eine mit
messianischem Gedröhn aufgeladene Kakofonie - der Held Neo ein Erlöser. Mit
dieser Figur verglich das Netzmagazin Counterpunch Julian Assange, andere
folgten. Dabei verhält sich der Kitschhacker Neo zu den früheren, harten
und zynischen Computermagiern des Cyberpunks etwa so wie van Goghs
Sonnenblumen-Bilder zum eher finsteren Gesamtwerk des Malers. Aber auch
dieser Mythos befördert heute Assanges eigenen.
Neo, Assange und Jesus
Wie Jesus muss sich Neo am Ende für die Rettung der Menschheit opfern. Es
sei doch nicht schlecht, wenn Assange als Märtyrer für die Meinungsfreiheit
stürbe, schreiben Kommentatoren im Forum von Golem.de, einem Portal für
Nachrichten aus der Informationstechnologie. Und auch diese Denkfigur
findet sich in Variationen verschiedentlich im Internet. Von dem, was
derzeit läuft - Firmen wie Paypal gehen gegen Wikileaks vor, Zensur bei der
Airforce, das Gezerre um Assanges Freilassung in Großbritannien -, passt
vieles zu einer Cyberpunk-Version der Wirklichkeit. Eine solche Erzählung
wäre natürlich nicht so wirkmächtig, wenn die Realität nicht öfter in ihr
mitschwänge und die Resonanz der Geschichte vervielfachte.
Die berühmtesten Beispiele dafür, wie eng Mythos und Wirklichkeit in der
Hackerwelt miteinander verwoben sind und welche Rolle der Tod darin spielt,
sind Karl Koch und Boris Floricic. Beide waren deutsche Hacker. Die Leiche
Kochs wurde im Mai 1989 verbrannt aufgefunden, Floricic im Oktober 1998
erhängt. Die offizielle Suizidversion glauben viele bis heute nicht: Koch
hatte Jahre zuvor für den sowjetischen KGB Daten von westlichen
Computersystemen gestohlen. Floricic, hieß es, könnte unter anderem wegen
seiner Forschungen zur Sprachverschlüsselung von einem Geheimdienst
umgebracht worden sein.
Was Koch in den 80ern und Floricic in den 90ern zeigten, war für die Welt
ein Schock: Der Hacker kann herausgreifen aus seinem virtuellen Universum
in das reale Leben und es beeinflussen. Assange tut heute dasselbe. Und
setzt sein Leben aufs Spiel. So sehen es viele seiner Anhänger, so
inszeniert er sich selbst: als Hexer, dem der Scheiterhaufen droht, weil
die Herrschenden seine Magie fürchten.
17 Dec 2010
## AUTOREN
Daniel Schulz
## TAGS
Gezi-Park
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