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# taz.de -- Julian Assange und das Schweden-Bild: Im falschen Film
> Von der sexualliberalen Traumgesellschaft zur feministischen Diktatur?
> Mit den Anklagen gegen Assange hat das Schweden-Bild einen heftigen
> Knacks bekommen.
Bild: Schluss. Aus. Vorbei. Das Schweden-Bild wird ab jetzt nicht mehr geprägt…
STOCKHOLM taz | Ab Dienstag wird es für Julian Assange ernst. Nach dem
juristischen Vorgeplänkel über Untersuchungshaft oder Freilassung auf
Kaution geht es ab dem 11. Januar vor dem Londoner Belmarsh Magistrates'
Court um die Frage der Überstellung an die schwedische Justiz zur Klärung
der gegen ihn erhobenen Sexualdelikts-Beschuldigungen.
Und folgt Assange nicht dem Rat, den der Wikileaks-Fan, Pirate-Bay und
Flattr-Mitbegründer Peter Sunde ihm dieser Tage in einem Interview der
Times gab, nämlich freiwillig nach Schweden zu kommen, um Wikileaks nicht
noch mehr zu schaden, könnte sich das Verfahren über Monate hinziehen.
Dass die britische Justiz dem schwedischen Begehren letztendlich folgen
wird, scheint nach ihrer bisherigen Praxis im Umgang mit europäischen
Haftbefehlen nämlich so gut wie sicher. Da mag sich Assange noch so sehr
beklagen, in ein – Zitat aus einem Interview mit The Australian -
„Saudiarabien des Feminismus“ ausgeliefert zu werden.
Wenn der Chef der Enthüllungsplattform sich die Ehre anrechnen darf,
höchstpersönlich zu einer „Enthüllung“ beigetragen zu haben, dann wohl d…
dass die hartnäckige Vorstellung von Schweden als dem sexuellen Sündenpfuhl
der Welt mit den Beschuldigungen gegen ihn offenbar einen ernsthaften
Knacks bekommen hat. Oder, so sein britischer Rechtsanwalt Mark Stephens:
Von einer sexualliberalen Traumgesellschaft habe sich Schweden zu einer
feministischen Diktatur gewandelt.
Hat da jemand im Bahnhofskino zuviel „Schweden-Filme“ der Sorte „Inga from
Sweden“ konsumiert? Mr. Stephens stünde mit einem solcherart beeinflussten
Schwedenbild keinesfalls allein. Als die schwedische
Fremdenverkehrszentrale vor einigen Jahren auf der Suche nach einem neuen
Werbekonzept eine Umfrage startete, erfuhr sie Erstaunliches: Gefragt nach
Schweden fiel den meisten Leuten nicht als erstes Astrid Lindgren, ABBA,
Volvo oder Ikea ein, sondern – Sex.
Schweden für immer geprägt von einer nackten Frauenbrust aus Ingmar
Bergmans „Sommer mit Monika“? Von damals wahrlich Revolutionärem, wie dem
Sexualunterricht an der Schule? Von einem 50er Jahre Time-Report „Sin &
Sweden“ oder der 68er italienischen Pseudo-Dokumentation „Svezia, Inferno e
Paradiso“?
Und jetzt, so verbreitete der US-Sender Fox News doch ganz ernsthaft, habe
Schweden ein Gesetz, das „Sex by Surprise“ bestrafe. Gar in den Knast komme
der arme Mann, dem im Akt das Kondom kaputt gehe. Anwalt Stephens, wohl ein
eifriger Kinogänger, sah sich nun „in einem surrealistischen
Schweden-Film“.
Julian Assange scheint nach seinen „10 Days in Sweden“ (Guardian) – was
schon der perfekte Titel für die sicher kommende Verfilmung wäre -, selbst
irgendwie im falschen Film zu sitzen. Kann es sein, dass der bekennende Fan
der Krimis von Stieg Larsson bei seinen Komplottvorwürfen gegen zwei
Schwedinnen zu sehr die Larsson-Heldin Lisbeth Salander im Hinterkopf hat?
Und da nur den Teil mit der Rache? Übersehen, dass es dafür ja Ursachen
gibt? Seine Klage – nochmals gegenüber The Australian –, „ich bin in ein…
Wespennest des revolutionären Feminismus gelandet“, könnte darauf
hindeuten.
Dabei ist es eigentlich gar nicht so schwer: Nicht nur bei der Freiheit im
Internet spielt der Schutz und der Respekt vor der Integrität Anderer eine
zentrale Rolle, sondern auch bei der Freiheit im Bett. Dann muss aber eben
auch die Kommunikation stimmen. Bei der nach allem, was man bisher weiß, es
ja gehakt haben und jenseits aller Polemik der Kern dafür liegen könnte,
warum es jetzt überhaupt einen „Fall Assange“ gibt.
Was in Schweden mittlerweile eine wichtige Internet-Debatte losgetreten
hat: Wie durch mangelnde oder missverständliche Kommunikation, der
Schwierigkeit „Nein!“ zu sagen, es einerseits zu ungewollten sexuellen
Kontakten, andererseits zu fragwürdigen Vergewaltigungsvorwürfen kommen
kann.
Zunächst ein Twitter-Tag, den die Journalistin Johanna Koljonen getweeted
hatte, weil sie sich nach eigener Aussage darüber ärgerte, dass
Assange-Fans wie Naomi Klein, John Pilger und Michael Moore diesem seine
„Unschuld-vom-Lande“-Geschichte ungeprüft abnahmen und zwei schwedische
Frauen damit gleichzeitig kurzerhand der Lüge beschuldigten, hat sich
daraus die Website [1][http://prataomdet.se/] („Prata om det“: „Lasst uns
darüber reden“) und ein englischsprachiger Hashtag #TalkAboutIt entwickelt.
Dort findet nun ein reger Austausch von Schilderungen aus der „sexuellen
Grauzone“, der Grenze zwischen Sex und Vergewaltigung statt.
„Wir brauchen eine Sprache für Sex ohne Scham, wir müssen über unsere
eigenen und die Grenzen anderer reflektieren“, definiert „Prataomdet“ als
Ziel: „Wir müssen über Grenzziehungen, Grauzonen und Grenzverletzungen
sprechen, die in sexuellen Situationen aufkommen. Es muss sich etwas
ändern.“
Schon ist von einer „neuen sexuellen Revolution“, ausgelöst von
„Prataomdet“, die Rede. Die Stockholmer Medienwissenschaftlerin Anu
Koivunen rühmt, dass Schweden als Hochburg im Gleichsetzen von Liberalismus
und Moral mal wieder Zeichen setze und konstatiert: „Schweden und Sex
gehören eben doch zusammen."
10 Jan 2011
## LINKS
[1] http://prataomdet.se/
## AUTOREN
Reinhard Wolff
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