Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Tunesien nach Ben Ali: "Wir haben gezeigt, wie es geht"
> Viele Menschen in Tunesien sind optimistisch, dass die Revolte auf die
> Region ausstrahlt: "Mubarak wird der nächste sein". Eine Reportage
Bild: Haus in Tunis, abfallend ein Ben-Ali-Poster.
Die Stimmung ist gereizt. "Stopp", ruft ein Soldat auf der Kreuzung
zwischen Kathedrale und französischer Botschaft. Gewehrläufe gehen hoch,
der Offizier zieht seine Pistole. Die Autotüren werde aufgerissen, die
Insassen, zwei junge Männer mit Lederjacken, herausgezerrt und auf den
Boden geschmissen, Mündung im Genick. Einige der vermeintlichen Passanten
entpuppen sich als Zivilpolizisten, die ebenfalls Pistolen und Knüppel
ziehen. Einer redet nervös in sein Funkgerät. Schaulustige werden
verscheucht, die beiden Männer rabiat abgeführt. "Präsidentengardisten",
meint ein Passant. "Milizen", ein anderer. In einem sind sich beide einig:
"Die Armee macht gute Arbeit. In zwei, drei Tagen kehrt hier bestimmt
wieder Ruhe ein."
Ein paar Meter weiter, am Eingang zur Medina, steht Mohammed, der
eigentlich anders heißt, mit seinen Freunden in der Sonne. Es sind alles
Verkäufer aus dem Souk in der Altstadt. "Wir machen heute nicht auf und
warten noch einen Tag ab", sagt der 58-Jährige in gutem Deutsch, das er
einst in Düsseldorf gelernt hat. "In meinem Stadtteil, in Mohammedia,
hielten letzte Nacht über 500 Jugendliche Wache", berichtet er. Sie folgten
einem Aufruf des Premierminister Mohammed Ghannouchi, der am Freitag in
einer Fernsehansprache den Rücktritt des Präsidenten Zine El Abidine Ben
Ali bekannt gab. Auch die Gewerkschaft UGTT, die die erfolgreiche Revolte
gegen das autoritäre Regime unterstützt hat, hat zur Bildung von
Selbstschutzkomitees aufgerufen. Mindestens einen Toten habe es in der
Nacht zum Sonntag bei ihm gegeben. "Organisierte Männer wollten ins Viertel
eindringen. Die Armee hat auf sie geschossen", erzählt er. Hinter den
Angreifern vermutet der Händler Milizen, "die von Ben Alis Clan und der
Familie seiner Frau bewaffnet wurden, um Panik zu säen".
"Autoimport, die großen Handelsketten, Banken, Tunis Air", zählt Mohammed
auf, was alle Tunesier wissen. Das Umfeld von Ben Ali und mehr noch die
Familie Trabelsi, so der Mädchennamen der ehemaligen Präsidentengattin
Leila, haben sich bei den Privatisierungen alles angeeignet, was Gewinn
versprach. "Jetzt ist das Spiel aus. Die Milizen plündern und zerstören
unter anderem die Supermärkte, damit sie nicht in die Hand des Volkes oder
der neuen Regierung fallen", meint Mohammed.
Plötzlich mitreden
In der Nacht nach Ben Alis Flucht wurden tatsächlich zwei große
Einkaufszentren vor den Toren der Hauptstadt ausgeräumt und angesteckt. Es
waren schnelle Aktionen, die trotz Ausgangssperre und Ausnahmezustand mit
Schießbefehl stattfinden konnten. "Die Polizei ist korrupt", sagt Mohammed
dazu nur. Am Samstagnachmittag versuchten Milizionäre zudem, das
Innenministerium auf der zentralen Avenue Habib Bourguiba anzugreifen, an
der auch die Hotels der ausländischen Journalisten liegen. Armee und
Polizei eröffneten das Feuer. Zwei leblose Körper wurden weggeschafft.
Insgesamt aber verlief die zweite Nacht nach Ben Alis überraschender Flucht
nach Saudi-Arabien am Freitag ruhiger als die erste. In der Hauptstadt
waren deutlich weniger Schüsse zu hören als am Vortag. Armeehubschrauber
überflogen den Großraum Tunis. Der am Sonntag vereidigte Übergangspräsident
Fouad Mebazaa, der zuvor dem Senat vorstand, hat erste Säuberungsaktionen
im Staatsapparat angeordnet. So wurde der Chef der Präsidentengarde, Ali
Seriati, festgenommen.
Nach Beginn der Ausgangssperre um 17 Uhr hängen die Tunesier gebannt vor
dem Fernseher und dem Radio. Die heimischen Sender bieten Debatten über die
Zukunft des Landes, bei denen auch Bürger per Telefon zugeschaltet werden.
Immer wieder unterbrechen Eilnachrichten über Gewaltakte die Programme. In
Tunis und im südtunesischen Sfax wurde aus gestohlenen Krankenwagen das
Feuer auf Passanten eröffnet. Französische Sender berichten derweilen vom
Tod des Fotografen der französischen Presseagentur EPA, Lucas Mebrouk
Dolega. Der 32-Jährige erlag den Verletzungen durch eine Tränengasgranate
auf der Demonstration vom Freitag, die den letzten Auslöser für den Sturz
Ben Alis bildete. Auch zu ersten Abrechnungen innerhalb des Regimes scheint
es zu kommen. So wurde am Freitag Imed Trablesi, der Lieblingsneffe von Ben
Alis Gattin Leila, erstochen.
Die Seitenstraßen vieler Viertel sind mit eiligst zusammengezimmerten
Sperren abgeriegelt. Meist junge Menschen stehen dahinter, bewaffnet mit
Knüppeln oder Metallrohren, manche auch mit Macheten. "Das ist die
Solidarität der Nachbarn", erklärt einer von ihnen. Ahmed ist 29 Jahre alt
und macht ein Masterstudium in Business Management. "Wir stoppen alle
Autos, die hier reinwollen", sagt er. Er steht unweit der Wohnung der
Menschenrechtlerin Sihem Bensedrine, die am Wochenende aus dem spanischen
Exil zurückgekehrt ist.
Bloß nicht die Islamisten
"Die Milizen, die derzeit das Land unsicher machen, wurden eigens von der
Familie Trabelsi ausgerüstet", erklärt die Betreiberin der wieder
freigegebenen Seite des Internetradios Kalima, eine der Stimmen der
Opposition. Dennoch sei die Entwicklung unumkehrbar, Menschen- und
Bürgerrechtsgruppen seien dabei, sich zu einer Plattform
zusammenzuschließen, um den Weg zur Demokratie, den Übergangspräsident
Mebazaa und Premier Ghannouchi angekündigt haben, zu überwachen.
Auch auf dem Hof eines der wichtigsten Krankenhäuser der Hauptstadt, dem
Hôpital Charles Nicolle, reden die Ärzte bei einer Zigarettenpause über die
unsicheren Nächte und die Zukunft. Während die Polizei niemanden die Straße
überqueren ließ, versuchte in der Nacht zum Samstag eine Gruppe Männer mit
Knüppeln und Eisenstangen das Spital zu überfallen.
"Zusammen mit Jugendlichen aus den umliegenden Stadtteilen haben wir sie
mit Gestängen der Transfusionsgeräte vertrieben", berichtet der
Universitätsarzt Benslema Riad: "Das hier ist ein Land, in dem mafiöse
Strukturen alles kontrolliert haben, die wollten sich einfach rächen und
Panik erzeugen."
Doch das Hauptthema von Benslema und seiner Kollegen ist Tunesiens Zukunft.
Wer eine Chance hat, in zwei Monaten zum Präsidenten gewählt zu werden,
weiß niemand zu sagen: "Ben Ali hat ganze Arbeit geleistet bei der
Unterdrückung der Opposition", meint einer. Doch alle sind sich sicher,
dass der Demokratisierungsprozess Persönlichkeiten hervorbringen wird. Im
Moment sind sie vor allem auf eines stolz: "Egal, wer letztlich Präsident
wird, Tunesien wird das erste arabische Land sein, in dem weder ein Militär
noch ein König Staatschefs ist. Was hier geschieht, wird sich auf die
gesamte arabische Welt auswirken."
Da ist sich auch der Händler Mohammed sicher: "Der Nächste, der stürzt,
wird Mubarak in Ägypten sein", sagt er. "Und ausgerechnet wir, das kleine
Tunesien, hat vorgemacht, wie es geht." Wer jetzt die Macht übernehmen
könnte, weiß er zwar auch nicht, aber er weiß, wen er auf keinen Fall an
der Macht sehen möchte: "Die Islamisten von Ennahda." Der in London lebende
Chef der verbotenen Ennahda-Bewegung, Rachid Ghannouchi, kündigte am
Samstag im Fernsehsender al-Dschasira an, bald nach Tunesien
zurückzukehren.
16 Jan 2011
## AUTOREN
Reiner Wandler
## ARTIKEL ZUM THEMA
Als taz-Journalist in Tunis unterwegs: Vorsicht, Scharfschützen!
Die Taxifahrt durch menschenleere Straßen nimmt ein jähes Ende. Soldaten,
ein Panzer. Aussteigen. Wir sitzen mit erhobenen Händen da. Und schauen in
Gewehrläufe.
Arabische Reaktionen auf Revolte in Tunesien: Der Westen soll Schuld haben
In den arabischen Ländern erklärt die politische Elite, der Umsturz in
Tunesien sei das Ergebnis westlicher Einmischung. Doch viele Menschen sind
durch die Ereignisse elektrisiert.
Tunesien und die arabische Welt: "Heute Ben Ali, morgen Mubarak"
Die Machthaber in der Region bezeichnen den Umbruch in Tunesien meist als
"innere Angelegenheit" des Landes – nur Gaddafi ist "schmerzhaft berührt".
Kommentar Tunesien: Hoffnung für arabische Demokraten
Noch ist offen, was in Tunesien auf Ben Ali folgt. Europa sollte alles
dafür tun, dass sich die Dinge in Tunesien zum Besseren wenden. Das Land
könnte damit zum Modell werden.
Nach dem Sturz des Diktators Ben Ali: Schmachvolles Ende des Clans
Der Schwager des gestürzten Staatschefs ist in Armeegewahrsam, der Neffe
tot. Andere Mitglieder der Familie sind im Privatjet geflohen, die Villen
wurden geplündert.
Tunesien nach Ben Ali: Scharfschützen auf dem Dach
Die Ben-Ali-Portraits werden abgehängt - doch in Tunesien gibt es weiter
Feuergefechte und Ausgangssperren. Vertreter der Opposition verhandeln
Zeitplan für Neuwahl.
Jasminrevolution in Tunesien: "Es gab keine Anführer"
"Das wird auf die gesamte arabische Welt Auswirkungen haben", glauben viele
in Tunesien. Für die Plünderungen sind Polizisten in Zivil und Milizen
verantwortlich, sagen sie.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.