# taz.de -- Dortmunder Envio-Skandal weitet sich aus: Gift in Luft und Boden | |
> In Nordrhein-Westfalen könnten in drei weiteren Recyclingfirmen Arbeiter | |
> verseucht worden sein. Die Unternehmen versuchen, die PCB-Werte | |
> herunterzuspielen. | |
Bild: Der Dortmunder Hafen - und mittendrin: das Firmengelände der Envio AG. | |
DORTMUND taz | Der Skandal um die Verseuchung von Arbeitern mit potenziell | |
krebserregenden Polychlorierten Biphenylen (PCB) bekommt eine neue | |
Dimension. Nach der Dortmunder Firma Envio stehen allein in | |
Nordrhein-Westfalen drei weitere Firmen im Verdacht, ihre Mitarbeiter mit | |
dem Stoff verseucht zu haben, der auch Hautkrankheiten wie Chlorakne oder | |
Leberschäden auslösen kann. Im Staub eines Geländes der Entsorgungsfirma | |
Remondis mit Sitz in Lünen sind 155 Milligramm des Gifts entdeckt worden. | |
Bei der Essener Firma Richter waren es 967 Milligramm - erlaubt sind 50. | |
Besonders hohe Werte fanden Prüfer des Landesamts für Natur, Umwelt und | |
Verbraucherschutz ausgerechnet bei der Abfallentsorgungs-Gesellschaft | |
Ruhrgebiet (AGR) - einer hundertprozentigen Tochterfirma des | |
Regionalverbands Ruhrgebiet, dem Zusammenschluss der Städte im Revier. In | |
einem AGR-Zwischenlager in Gelsenkirchen lag die PCB-Konzentration bei mehr | |
als 58.000 Milligramm - dem mehr als Tausendfachen des zulässigen | |
Grenzwerts. | |
Erste Konsequenz: Der Betrieb ist zumindest vorübergehend geschlossen. Doch | |
für fast 50 Menschen, die heute bei der AGR arbeiten oder früher dort | |
beschäftigt waren, beginnen damit Wochen der Angst: Etwa drei Wochen wird | |
es noch dauern, bis durch Blutuntersuchungen geklärt ist, ob und wie stark | |
sich das das Gift in ihren Körpern angereichert hat. Die Langzeitwirkungen | |
der PCB-Chemikaliengruppe können verheerend sein. "Wir beobachten | |
Hautveränderungen, Auswirkungen auf das Nervensystem, Veränderungen im | |
Hormonhaushalt", sagt der Aachener Arbeitsmediziner Thomas Kraus, der die | |
Opfer der Dortmunder Envio betreut. Für Stundenlöhne ab 7,50 Euro zerlegten | |
die Envio-Arbeiter bis April 2010 - teilweise ohne jede Schutzbekleidung - | |
alte, hochgradig PCB-belastete Transformatoren. | |
## Schwangere gefährdet | |
Gegen den Envio-Geschäftsführer Dirk Neupert bereitet die Dortmunder | |
Staatsanwaltschaft jetzt ein Strafverfahren vor - "wegen Umweltdelikten, | |
aber auch wegen Körperverletzung", sagt ein Ermittler. Denn Neuperts Firma | |
hat auch Kinder und Schwangere belastet: Mit der Kleidung schleppten die | |
Arbeiter den Stoff bis in ihre Wohnungen. "PCB können fruchtschädigend | |
sein", warnt Arbeitsmediziner Kraus. | |
AGR-Geschäftsführer Joachim Ronge spielt die extrem hohen Giftwerte im | |
eigenen Unternehmen herunter. "Da ist nicht richtig saubergemacht worden", | |
sagte er vor Kurzem bei einer hektisch anberaumten Pressekonferenz. Die | |
Reinigungstechnik sei "nicht ausreichend", räumte er lediglich ein. Und | |
überhaupt: Gerade einmal "so groß wie ein Keks" sei die PCB-verseuchte | |
Stelle am Boden seines Zwischenlagers gewesen. | |
Auch die Behörden setzen auf Beruhigung. "Noch ist völlig unklar, ob | |
überhaupt irgendjemand mit PCB belastet wurde", sagt Sigrun Rittrich, | |
Sprecherin der für den Arbeitsschutz bei der AGR zuständigen | |
Bezirksregierung Münster. Mit den Arbeitsbedingungen bei Envio, wo selbst | |
einfachste Atemschutzmasken fehlten und die Arbeiter deshalb PCB-haltigen | |
Staub einatmeten, sei die Situation bei der AGR "gar nicht zu vergleichen". | |
Masken seien vorhanden gewesen, die Schutzkleidung der Arbeiter sei von | |
einer Spezialfirma gereinigt worden. | |
Erste Untersuchungen hätten im Gegensatz zu Envio keine Belastung des | |
Außengeländes ergeben - in Dortmund waren durch geöffnete Hallentore sogar | |
Anwohner vergiftet worden. Außerdem sei die AGR "regelmäßig alle drei Jahre | |
nach Störfallrecht" überprüft worden, sagt Sprecherin Rittrich. "Dazu kamen | |
zusätzliche angemeldete und unangemeldete Kontrollen." | |
Wie oberflächlich solche Kontrollen ausfallen konnten, belegen | |
taz-Recherchen zum Fall Envio. Schon im September 2008 war bei den | |
Arbeitsschützern der für Envio zuständigen Bezirksregierung Arnsberg eine | |
anonyme Anzeige eingegangen. Envio kaufe "große Mengen PCB-verunreinigter | |
Transformatoren", die in der Untertage-Deponie Herfa-Neurode in Nordhessen | |
eingelagert gewesen seien, hieß es darin. "Diese Transformatoren werden | |
illegal zwischengelagert und ohne Genehmigung verarbeitet", klagte der | |
Informant und warnte: Die Envio-Mitarbeiter seien "über die Gefahren | |
unzureichend oder gar nicht informiert", arbeiteten "teilweise | |
ungeschützt". | |
Die Behörde reagierte alarmiert - schließlich gilt der Schacht | |
Herfa-Neurode als das größte Giftgrab der Welt. Doch bei einer Kontrolle | |
versagten die Arbeitsschützer völlig: "PCB-haltige Stäube" würden bei Envio | |
"zurzeit nicht verarbeitet", notierte ein Beamter nach seiner Besichtigung | |
des Firmengeländes in einem Vermerk vom 23. September 2008. Schließlich | |
könne das Gift "nur anfallen, wenn Untertagedeponie-Trafos verarbeitet | |
werden". Eine entsprechende Genehmigung fehle aber. | |
Was der Arbeitsschützer übersah: Auf dem Envio-Gelände müssen bei seinem | |
Besuch trotz fehlender Erlaubnis dutzende der PCB-verseuchten | |
Transformatoren herumgestanden haben. Denn allein im September 2008 sind | |
bei Envio über 314 Tonnen der zum Teil zimmergroßen Elektrobauteile | |
angeliefert worden. Das belegen Lieferunterlagen der Transformatoren, | |
sogenannte Begleitscheine, die von der Bezirksregierung Arnsberg | |
gespeichert werden und der taz vorliegen. | |
Innerhalb der nordrhein-westfälischen Umweltverwaltung ist man über das | |
Versagen des Arbeitsschutzes noch heute entsetzt. "Entweder hat der Beamte | |
nur im Büro von Envio-Geschäftsführer Dirk Neupert gesessen und Kaffee | |
getrunken, oder er war korrupt und wollte nichts sehen", sagt ein Experte. | |
Denn Envio-Boss Neupert hatte die verseuchten Transformatoren schon lange | |
als lukratives Geschäft entdeckt. Seine Firma kassierte für die angeblich | |
sichere PCB-Entsorgung und verkaufte die in den Elektrobauteilen | |
enthaltenen Metalle anschließend weiter. Direkt nach der Übernahme Envios | |
2004 versuchte Neupert deshalb, möglichst viele Transformatoren | |
heranzuschaffen: Kamen 2005 noch 1.388,8 Tonnen aus Herfa-Neurode in | |
Dortmund an, waren es 2007 schon über 3.100 Tonnen. Selbst 2010, als | |
Neuperts Envio schon hunderte Mitarbeiter verseucht hatte und die | |
Schließung drohte, kamen noch 621 Tonnen. | |
## Abgelaufene Genehmigung | |
"Insgesamt haben wir rund 14.000 Tonnen Material an Envio geliefert", | |
bestätigt auch Michael Wudonig, Sprecher des Konzerns K+S, der seine | |
einstige Kalilagerstätte Herfa-Neurode heute als Giftmülldeponie betreibt. | |
Andere Kunden von Envio waren Energiekonzerne wie Eon oder RWE. "Wir haben | |
jährlich etwa 30 Trafos an Envio geliefert", sagt RWE-Sprecher Sebastian | |
Ackermann. "Davon waren drei bis vier bis zu 200 Tonnen schwer und mit PCB | |
belastet." | |
Von der Verseuchung der Envio-Mitarbeiter aber wollen K+S, RWE und Eon | |
nichts geahnt haben. "Wir sind selbst Opfer", beteuert RWE-Sprecher | |
Ackermann, schließlich sei Envio ein "zertifizierter | |
Entsorgungs-Fachbetrieb" gewesen. Doch allzu genau wollten die Konzerne | |
offenbar nicht wissen, was mit ihrem Schrott geschah: Schon eine einzige | |
Anfrage bei der Bezirksregierung in Arnsberg hätte ergeben, dass Envio | |
zumindest die Erlaubnis für die Verwertung von Transformatoren aus | |
Herfa-Neurode fehlte. Die Genehmigung für einen Probebetrieb war im April | |
2006 ausgelaufen. | |
Kriminellen Geschäftemachern wie Envio-Boss Neupert sei viel zu lange | |
vertraut worden, sagt auch der Sprecher des Landesamts für Umweltschutz, | |
Peter Schütz. "Die Firmen konnten sich ihre Unbedenklichkeits-Zertifikate | |
selber kaufen. Sie kontrollieren sich selbst", klagt er. Gründe dafür seien | |
Geld- und Personalmangel, aber auch "fehlender politischer Wille" von | |
Seiten der schwarz-gelben NRW-Landesregierung, die im Mai 2010 abgewählt | |
wurde. Denn "selbst durch eine vorübergehende Schließung können Firmen | |
wirtschaftlich schwer geschädigt werden, kann der Totalverlust drohen", | |
sagt Schütz. So habe dann erst mit dem Regierungswechsel das von dem Grünen | |
Johannes Remmel übernommene Umweltministerium ein | |
"Sonderuntersuchungsprogramm" für PCB-Recyclingbetriebe angeordnet - erste | |
Ergebnisse seien die Funde bei der AGR, bei Remondis und Richter. | |
"Sehr zeitnah" habe sein Landesamt reagiert, lobt Peter Schütz die eigene | |
Behörde. Warum seit der Envio-Schließung fast ein Jahr vergangen ist, bis | |
weitere Firmen kontrolliert wurden, kann er nicht erklären. Die | |
Entsorgungsbranche dürfte gewarnt sein. | |
1 Mar 2011 | |
## AUTOREN | |
Andreas Wyputta | |
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