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# taz.de -- Kolumne Das Schlagloch: Geistige Zuckerwatte
> Es gibt handfeste Gründe, warum Islamfeindlichkeit heute Konjunktur hat.
> Trotzdem: Bildungsnot und soziale Ungerechtigkeit gibt es auch ohne
> Muslime.
Verblüfft rieben wir, die Verfasser des gegen Sarrazins Rassismus
gerichteten "Manifests der Vielen", uns letzte Woche die Augen. Kaum hatten
wir unser Buch vorgestellt, ernteten wir Lob - und Vorwürfe von allen
Seiten. In der taz mäkelte Andreas Fanizadeh, wir hätten (zu lässig
offenbar) an der Bühne gelehnt und sie uns später gar "genommen", so "wie
man es aus den Talkformaten des Fernsehens kennt". Der Spiegel dagegen
schrieb, wir hätten in der Ecke gesessen wie ein seine Wunden leckender
Boxer.
Dieses Doublebind ist einer Frau vertraut: Entweder du hältst dich zurück,
dann übersieht dich jeder. Oder du machst den Mund auf, dann bist du
angeblich zu laut. Noch verblüffender aber war die Frage, welche
ausgerechnet der Spiegel-Artikel aufwarf: "Niemand beschäftigt sich mit der
Frage: Warum hat Sarrazin Erfolg? Warum ist ausgerechnet sein Bild von den
Muslimen das Bild, das Millionen Deutsche mit dem Islam verbinden? Wie
konnte das passieren? Diese Katastrophe?"
## Huntingtons Frontenbildung
Nun, die eine Antwort lautet, dass es der Verbreitung eines Buchs schon
ungemein hilft, wenn Deutschlands bedeutendstes Nachrichtenmagazin einen
fünfseitigen Vorabdruck bringt. Die "Katastrophe" wurde gründlich mit
vorbereitet - von beinah sämtlichen Printmedien und mit Begleitfeuer aus
allen öffentlich-rechtlichen Kanälen. Islamfeindlichkeit ist kein Phänomen,
das spontan aus "Volkes Mitte" erwuchs, sondern entstammt der bürgerlichen
Öffentlichkeit, die doch eigentlich dem Abwägen, Installieren und
Bestätigen universalistischer demokratischer Normen verpflichtet ist.
Warum steht in diesen Debatten der Islam im Mittelpunkt, gleichsam als Auge
eines Wirbelsturms, der das christliche Abendland zu verschlingen droht?
Der 11. September 2001 war sicher ein Beschleuniger und Verstärker. Doch
eine ablehnende Haltung dem Islam gegenüber gab es schon vorher, wie
Interviews mit Zeithistorikern und Pädagogen, mit Moscheegemeinden und
Experten aus der "Ausländerarbeit" zeigen. Bereits im Jahr 1993 erregte
Samuel Huntington Aufsehen mit seiner - keineswegs kritisch gemeinten -
These, nach dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs würden sich neue
Fronten etablieren. Als einen möglichen Kontrahenten Europas und
Nordamerikas sah er schon damals den islamischen Raum.
Den sonderbaren Kulturbegriff sowie den globalkapitalistischen Freudenruf
Huntingtons beiseite lassend, kann man diese Behauptung durchaus kritisch
aufgreifen und bestätigen: In der Tat scheint es sich um ein fast
universelles menschliches Verfahren zu handeln, nach der jedes Gemeinwesen
eines Gegenübers, jedes Eigene eines Fremden bedarf, indem es sich spiegeln
- oder eher: vor dessen Negativfolie es erstrahlen - kann. Sowohl in der
klassischen soziologischen wie auch in der neueren poststrukturalistischen
Literatur ist dieser Mechanismus vielfach beschrieben worden.
## Kampf um Energieressourcen
Lassen sich neben diesem "weichen" Mechanismus noch "härtere" Gründe
benennen? Ein Historiker des Jahres 2111 würde rückblickend sicherlich
betonen, dass in unserem Jahrzehnt Europa und Nordamerika in ökonomischer
und geostrategischer Hinsicht vor allem mit mehrheitlich islamischen
Ländern rangen: Die Energieressourcen, vor deren Versiegen wir Angst haben,
befinden sich in den Händen just solcher "Gegner". Gleichzeitig ist Europa
nicht nur ideell, sondern auch ganz realpolitisch verstrickt, was die
eigenen Grenzen angeht: Europa braucht die muslimischen Länder Nordafrikas,
um sich mit deren Hilfe Flüchtlinge aus Afrika vom Leib zu halten.
Wir sehen hier zwei unterschiedliche Funktionen des Fremden für das Eigene:
Während im Fall von Ländern wie Irak und Afghanistan ein islamisches Land
als Gegner und somit als das bedrohliche Fremde auftritt, muss im anderen
Kontext der südliche Mittelmeerraum, obwohl Verbündeter, schon allein daher
fremd bleiben, weil andernfalls der schützende Ring um Europa in sich
zusammenfiele.
Dass beiden außenpolitischen Phänomenen innenpolitisch das Anwachsen eines
Feindbildes Islam entspricht, ist wenig erstaunlich. Dabei werden Menschen,
die ja seit Jahren und Jahrzehnten inmitten dieses Landes leben, wiederum
zu Fremden gemacht, wie die unbeirrbare Rede von "muslimischen Migranten"
belegt, die tatsächlich zur Hälfte deutsche Staatsbürger und zur anderen
Hälfte fast komplett lange hier ansässige Bevölkerungsmitglieder sind.
Neben den außenpolitischen Motiven gibt es innenpolitische, die das
Anwachsen eines Bildes vom Fremden im Inneren befördern. Sozialmisere,
Bildungsmisere, drohender Notstand im Gesundheitssystem - nichts liegt
näher, als einen Schuldigen zu suchen, der hilft, die Probleme zu
externalisieren. Auch hierfür muss dieser Schuldige zunächst als un-eigen,
als fremd stigmatisiert werden, damit die Entlastungsfunktion voll greifen
kann: DIE waren es! Die Muslime mit ihrem Integrationsunwillen, ihrem Koran
und ihrem niedrigen IQ haben unseren Schnitt gesenkt.
## Suche nach dem Sündenbock
Warum sich ausgerechnet ein Buch wie das Sarrazins in solchen Stückzahlen
verlaufen lässt, ist daher kein Wunder, sondern eher eine Art Ablasshandel
in einer von diversen Krisen geschüttelten Zeit: ein Happen Zuckerwatte,
der es dem Käufer einfacher macht. Träumen kann er nun von einer Welt, oder
zumindest einem Europa, in dem die Muslime fort oder gar nicht erst
gekommen wären und jedes blonde Kind hervorragendes Abitur ablegen und
einen tollen Beruf ergreifen kann, während seine Eltern wohlversorgt und in
Frieden altern.
Nur wird dies nicht passieren. Die Geschichte der Bundesrepublik und
Europas ist unumkehrbar. Muslime leben hier und werden bleiben, und
"schlimmer" noch: Verteilungsprobleme, Bildungsnot, soziale
Ungerechtigkeiten existieren unabhängig davon und bestehen weiter. Kein
Islamhass kann dies ändern. Es ist daher nicht nur aus der Sicht der
Betroffenen, sondern auch in der Gesamtsicht auf Deutschland tragisch, wie
hemmungslos und selbstmitleidig sich große Teile der sogenannten
autochthonen Bevölkerung dem tröstenden Wahn hingeben, es seien "die
Moslems", deren Minarette den schönen deutschen Himmel zerkratzen.
Große Teile der Bevölkerung wähnen dies, aber nicht alle. Der Rechtsruck
unserer Gesellschaft wird ja nicht nur von deutschen Muslimen bedauert,
sondern auch von nichtmuslimischen, autochthonen Deutschen. Immer mehr von
ihnen sind entsetzt, wohin dieses Land treibt, ihre Stimmen vermischen sich
mit denen der muslimischen oder sonst wie "migrantisch" angehauchten. Nach
Monaten rassistischer Dauerbeschallung auf allen Kanälen verschaffen wir
uns wieder Gehör und "nehmen" uns gemeinsam "die Bühne".
8 Mar 2011
## AUTOREN
Hilal Sezgin
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