Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- 60.000 protestieren gegen die Atomkraft: "Was willsch da mache?"
> Sie setzten ein Zeichen an diesem tragischen Tag: 60.000 demonstrieren in
> Baden-Württemberg gegen Atomkraft. Sie tanzen, trauern – und erwarten
> eine neue Atomdebatte.
Bild: Fahnen hoch zur Menschenkette: Auf 45 Kilometern wurde gegen die Atomkraf…
STUTTGART taz | Nein, es ist kein leichter Protesttag, dieser Samstag.
Schon seit Monaten haben Atomkraftgegner in ganz Deutschland mobilisiert,
um noch einmal ein starkes Zeichen zu setzen, im Landtagswahlkampf von
Baden-Württemberg. Um Mappus abzuwählen, den Ministerpräsidenten. Um gegen
Filz und Atomkraft anzustänkern. Und dann das: [1][Japan, Fukushima].
"Da sind gerade mal locker tausende Leute gestorben – und der Arsch da
vorne muss groß das Maul aufreißen", schreit ein Passant, der gehetzt am
Stuttgarter Schlossplatz vorbei stürmt. Er meint den Redner dort auf der
Bühne. Christoph Bautz von Campact, der gerade, natürlich, den sofortigen
Ausstieg aus der Atomkraft fordert.
Tausende Menschen stehen auf dem Schlossplatz, unter dem grün-gelben
Fahnenmeer. Viele tanzen und jubeln, beklatschen die Rede dort auf der
Bühne. Andere sind ruhig und betroffen. Wie lässt sich protestieren, an
solch einem Tag, an dem niemand weiß, ob vielleicht gerade ein neues
Tschernobyl entsteht? Wieder ein Super-GAU und wieder eine Ernüchterung, in
diesem so zähen Kampf gegen Atomkraft?
Zehntausende sind heute nach Baden-Württemberg gekommen, weit mehr als
gedacht. 60.000 gar, sagt das Veranstalter-Bündnis. Sie haben eine 45
Kilometer lange Menschenkette gebildet. Die begann im Norden am
umstrittenen Atomkraftwerk Neckarwestheim, in der Idylle des Landes. Und
sie schlängelte sich hinab gen Süden, an den weiten Feldern entlang, bis
hin zu einem symbolischen Ort: Der Staatskanzlei in Stuttgart.
Falls hier am 27. März Stefan Mappus, der Ministerpräsident der bisherigen
CDU-Hochburg und des Atom-Standorts Baden-Württemberg, abgewählt wird, dann
könnte sich in Deutschland etwas ändern. Und dass so viele Menschen heute
gekommen sind, zeigt: Japan, das ist atompolitisch gleich um's Eck.
Helmut Gerber, 73, steht bedächtig auf dem Schlossplatz. "Mulmig ist
mir's", sagt der pensionierte Beamte. "So ein GAU ist keine
Unwahrscheinlichkeit, das passiert tatsächlich. Mir ist heute nicht nach
Tanzen zumute."
Und nur einige Meter weiter sitzt die 15-jährige Theresa aus
Stuttgart-Filderstadt mit ihren Freunden auf dem Boden, sie wippt mit ihren
Füßen. "Wenigstens ist es noch vor der Landtagswahl passiert", sagt sie.
"Das könnte doch noch mal etwas bewirken. Man muss ja in allem auch das
Positive sehen." Helmut Gerber und Theresa sind das Spektrum dieses Tages.
Fukushima, das ist in Stuttgart heute ein Befehl. Atomausstieg jetzt. Und
Stuttgarts Schlossplatz ist das Zentrum dieses großen Zwiespalts, der den
Atomkraftgegnern Auftrieb gibt: Kurz vor den wichtigen Wahlen im Ländle so
eine Havarie. Das mobilisiert die Leute.
125 Busse und drei Sonderzüge sind gekommen, aus vielen Teilen
Deutschlands. Und Menschenmassen strömten in die Menschenkette, von denen
auch die OrganisatorInnen nicht träumen wollten, als ihre Planungen vor
Monaten begannen. Ist nicht genau dieses Fukushima der Beweis, dass sie
doch alle schon immer auch Recht hatten?
Das sieht auch heute nicht jeder so. Frieder Bartlog, 61, ist Fahrlehrer
dort drüben "im Dorf", wie er es nennt. Das Dorf heißt Obrigheim. 80
Kilometer nördlich von Stuttgart. Wieder so ein Atomstandort in
Baden-Württemberg. Hier haben sie vor fünf Jahren das AKW abgeschaltet.
Heute haben sie "da vorn neben das Kraftwerk so einen Bio-Kram hingebaut",
sagt Bartlog. "Jetzt heizen die hier mit Holzschnitzeln."
Und heute steht Frieder Bartlog mit zwei Jungs auf dem Parkplatz vor dem
alten Akw, den sonst niemand mehr benötigt. Einer der Jungs dreht Runden
auf dem Moped. Eigentlich könnte Bartlog ja froh sein, dass es beim ihm
nicht mehr strahlt. Doch er hat nichts gegen Atomkraft. "Japan das ist ganz
weit weg", sagt Bartlog. "In Deutschland gibt's doch gar keine Erdbeben."
Das sagt auch Larissa Bienias. Die 27-Jährige lebt in Neckarwestheim, da
läuft das Kraftwerk noch. Den ganzen Tag schon fahren hier die Busse
vorbei, mit den Protestlern. Und die Metzgersfrau schiebt Mettbrötchen über
die Theke in der Metzgerei Rieker. "Isch halt die Natur. Was willsch da
mache?"
"Was willsch da mache?" Das wird auch in Deutschland eine der großen Fragen
der kommenden Tage werden. Für Frieder Bartlog muss sich nicht viel ändern.
Doch die Bilder des Tages kommen an diesem Protesttag vom Stuttgarter
Schlossplatz. Dort trauern de Menschen. Und sie tanzen auch.
Und weil nun auch aus der CSU erste Stimmen fordern, alle deutschen
Kernkraftwerke neu zu überprüfen, darf auch die Kanzlerin nervös werden.
Neulich erst hat ihre Regierung die Laufzeiten deutscher Kernkraftwerke
verlängert. Für heute Abend hat Angela Merkel ins Kanzleramt geladen, zum
Krisengipfel.
Dort will sie mit ihren Ministern bereden, was nun zu tun ist. Mit
Innenminister Hans-Peter Friedrich, mit Außenminister Guido Westerwelle und
mit Umweltminister Norbert Röttgen. Der wollte zwar am Samstag noch keine
Parteipolitik machen, aber eines sagte er im Deutschlandfunk dann auch:
Dass sich nun auch wieder "Grundfragen" stellen. Grundfragen.
Nein, es war kein leichter Protesttag, dieser Samstag. Aber so tragisch es
ist: Er war erfolgreich.
12 Mar 2011
## LINKS
[1] /1/zukunft/umwelt/artikel/1/explosion-im-atomkraftwerk-1/
## AUTOREN
Martin Kaul
## TAGS
Schwerpunkt Atomkraft
Schwerpunkt Atomkraft
Schwerpunkt Atomkraft
Schwerpunkt Atomkraft
## ARTIKEL ZUM THEMA
Tschernobyl-Doku auf Arte: Die große Verarschung
Arte zeigt mit "Die Wolke" (20.15 Uhr) eine Doku über den Reaktorunfall von
Tschernobyl. Beim Zuschauer bleibt eine Frage: Werden wir wenigstens
diesmal nicht belogen?
Sicherheit deutscher AKWs: Die Kesselflicker vom Kernkraftwerk
Seit jeher wird beteuert, deutsche Atomkraftwerke seien sicher. Das ist und
war falsch - auch schon vor der Katastrophe in Japan, wie zahlreiche
Störfälle zeigen.
Landtagswahl BaWü nach Atomunfall: Es wird knapp
Er hatte sich für AKW-Laufzeitverlängerungen starkgemacht. Das könnte
Baden-Württembergs Ministerpräsidenten Stefan Mappus am 27. März das Amt
kosten.
Mahnwachen in Deutschland: "Gib mir eine Fahne!"
Mit Mahnwachen an über 400 Orten reagierten bundesweit mehr als 100.000
Menschen auf die Atomkatastrophe in Japan. Sie forderten von der Regierung
weitergehende Maßnahmen.
Bärbel Höhn über deutsche Risiko-Akws: "Eine reale Gefahr für die Bevölker…
Die grüne Umweltexpertin Bärbel Höhn spricht mit der taz über die alten
Atomkraftwerke, die Schwarz-Gelb länger laufen lässt. Und die Aussichten
der deutschen AKW-Gegner.
Nach Erdbeben und Tsunami in Japan: "Ich komme mir vor wie im Kino"
An den Küsten im Katastrophengebiet in Japan wurden mehr als 600 Leichen
gefunden. Die örtliche Polizei rechnet offenbar mit mehr als 10.000 Toten.
Millionen sind ohne Wasserversorgung.
Atomkatastrophe in Japan: Kühlsystem in drittem Akw ausgefallen
In einem Atomkraftwerk Tokai südlich von Fukushima ist das Kühlsystem
ausgefallen. Ob eine Kernschmelze in Reaktor 3 im Akw Fukushima I begonnen
hat, ist weiter unklar.
Havarie an Japans Akws Fukushima I + II: Kühlung von 6 Reaktoren ausgefallen
Druckbehälter im Block 1 des Akw Fukushima I wird notdürftig mit Meerwasser
gekühlt. Es ist unklar, ob es zur Kernschmelze kam. Auch im Block 3 fiel
die Kühlung aus – im nunmehr 6. Reaktor.
Atomkraftdebatte in der Union: Streit um die Deutungshoheit
Merkel will nach dem Reaktor-Unglück in Japan eine Debatte um die deutsche
Atompolitik verhindern. Umweltminister Röttgen will genau das. Wer gewinnt,
ist absehbar.
Nach dem Erdbeben in Japan: Atom-Katastrophe aus dem Lehrbuch
Die Explosion im japanischen Akw Fukushima I ist das, was sich
Wissenschaftler als den Super-GAU vorgestellt haben. Jetzt beten alle, dass
sich der Wind nicht dreht.
Nach Erdbeben in Japan: Humanitäre Katastrophe
Auch Tage nach dem Erdbeben werden in Japan noch tausende Menschen
vermisst. Zehntausende mussten aus der Nähe von Akws evakuiert werden.
Hunderttausende sind obdachlos.
Kommentar Reaktorexplosion in Japan: Die Methoden der Atomlobby
Das Vertuschen und Verzögern der Atomlobby ist ein unfassbarer Skandal.
Aber er ist keine Folge des Chaos nach dem Beben, nein - das hat Methode.
Auch in Deutschland.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.